[BERLIN] SALON:

Stefan Bullerkotte, Meike Schalk, Stephan Wurm, Andrea Benze, Timothy Jachna with special thanks to Susanne Wurm and the organizers of Hybrid Work Space

ON MEMORY

- Places And Memory -

Memory and history are central issues for the search of the identity of places and spaces. To occupy them, to discover their history, or to free them of their history and to inscribe a new one, is therefore not only a method, investors use to revitalize places with well-sounding names and constructed myth. But it can also develop to a question of national awareness, when places are to be associated with an assigned symbolism.

Individual experience is usually not associated with this. Rather the opposite: the individual experience is contrary to the "collective memory" described in books, documents or city maps.

But personal memories are an essential key to the experience of urban spaces. Which experiences and stories are connected to individual spaces? Which spaces stay in remembrance, which ones are forgotten? Which ones allow to be occupied with individual memories, which ones prescribe specific stories, which ones have inscribed a dominating history.

The Salon will take up the issue of "Memory" in this sense and discuss the meaning for our experience of the city. The question will be raised, which formal development the city can aim at to save and continue its memory - and therefore its identity - without blocking off changes and ongoing development as part of its identity.

The salon on two evenings invited guest to discuss this issue. Their lectures and the discussion are published here in a strongly shortened version. We are sorry for not being able to translate the entire text into English.

Programm

Donnerstag, den 26.06.1997.

Wolfgang Ernst “Stadtspeicher: Gedächtnis statt Erinnerung”
Maria Marchetta “Vom Handeln aus der Kraft der Erinnerung”
Arnold Dreyblatt “The Spaces of Memory”
discussion “On Memory 1”

Freitag, den 27.06.1997

Jürgen Hohmuth “Who wants to see reality”
Simone Barck “Missing Link”
discussion “On Memory 2”

The [Berlin] Salon

was founded in summer 1995 by Stefan Bullerkotte, Stephan Wurm, Andrea Benze and Timothy Jachna. It is a project-oriented collaboration of different groups and individuals dealing with issues of art and architecture. The aim is to organize a discussion-series - so-called Salons -. In weekly meetings the issues are elaborated and been made public at several Salon-evenings which have been organized so far. There was a great response to the discussion.
Architecture and urban planning are in a situation of essential situation of change. Increasingly, it is recognized, that the solution of problems, that develop through a rapidly changing society cannot be solved with the traditional methods of urban planning and designing. The [Berlin] Salon was founded with the aim, to increase the spectrum of architectural thinking. The theoretical issues raised, find a response in the practical work of the participants and are therefore an essential factor for the development of a different architectural model.

The Salons

These public evenings are to be organized in 1997 regularly every six weeks. Two to four invited guests will give a short lecture stating contradictory opinions. The lectures are followed by a discussion with the audience. To avoid the character of panel discussion the setting is arranged rather as a "round table". It is the aim to bridge between the lecturers and the audience to collaboratively develop the theme.

By the organization of the evenings by different teams, every salon gets a individual, theme oriented character. In this sense it is also planned to use different locations in the Berlin area.

 

On Memory - german -

-Ort und Erinnerung -

Erinnerung und Geschichte sind zentrale Begriffe auf der Suche nach der Identität von Orten und Räumen. Sich ihrer zu bemächtigen, ihre Geschichte zu entdecken, oder sie zu entfernen und eine neue zu inskribieren, ist daher nicht nur ein Spiel von Investoren, um Orte mit klangvollen Namen und einem konstruierten Mythos zu beleben. Teilweise entwickelt es sich zur Frage nationalen Bewußtseins, wenn Orte mit dem entsprechenden Symbolismus belegt werden.

Individuelle Erfahrung wird damit meistens nicht verbunden. Im Gegenteil: die Erfahrung von Räumen divergiert von der als "kollektiver Erinnerung" beschriebenen Geschichte, die sich in Form von Büchern, Dokumenten und Stadtplänen manifestiert.

Im Gegensatz zur "Geschichtsschreibung" sind persönliche Erinnerungen ein wesentlicher Schlüssel zur Erfahrung von Stadträumen. Welche Erlebnisse und Geschichten verbinden sich mit einzelnen Räumen? Welche Räume bleiben in Erinnerung, welche werden vergessen? Welche Räume lassen sich mit eigenen Erinnerungen belegen? Welche Räume geben Geschichten vor, welche sind festgeschrieben?

Der Salon will das Thema "Erinnerung" in diesem Sinne aufgreifen und seine Bedeutung für unsere Stadterfahrung diskutieren. Es wird die Frage gestellt, welche formale Entwicklung die Stadt anstreben kann, um ihre Erinnerung - und damit ihre Identität - zu bewahren, ohne sich dabei Veränderungen, als Bestandteil dieser Identität, zu verschließen.

Dazu waren an zwei Tagen Referenten zur Diskussion eingeladen. Ihre Beiträge und die Diskussion werden hier in strak verkürzter Form wiedergegeben.

Programm

Donnerstag, den 26.06.1997.

Wolfgang Ernst “Stadtspeicher: Gedächtnis statt Erinnerung”

Maria Marchetta “Vom Handeln aus der Kraft der Erinnerung”

Arnold Dreyblatt “Die Räume der Erinnerung”

anschließende Diskussion “On Memory 1”

Freitag, den 27.06.1997

Jürgen Hohmuth “Wer will Wirklichkeit sehen”

Simone Barck “Missing Link”

anschließende Diskussion “On Memory 2”

Der [Berlin] Salon - german -

wurde im Sommer 1995 von Stefan Bullerkotte, Stephan Wurm, Andrea Benze, Timothy Jachna gegründet. Er ist eine projektbezogene Zusammenarbeit verschiedener Gruppen und Individuen aus dem Umfeld Architektur und bildene Kunst um Diskussionsabende - sogenannte Salons - zu organisieren. Bei wöchentlichen Treffen werden Themenschwerpunkte beraten und anschließend weiter ausgearbeitet. Daraus entwickelten sich bisher mehrere Abende, an denen die Diskussion in die Öffentlichkeit getragen wurde und damit auf breite Resonanz stieß.
Architektur und Stadtplanung befinden sich in einer weitgreifenden Umbruchsituation. So wird zunehmend bemerkt , wie die Lösung der Probleme, die im Rahmen gravierender gesellschaftlicher Veränderungen entstehen, kaum noch mit den herkömmlichen Methoden der Stadtplanung und -gestaltung bewältigt werden können. Der [Berlin] Salon hat sich mit dem Ziel gegründet, daß Spektrum des architektonischen Denkens zu erweitern. Die theoretischen Anregungen schlagen sich in der praktischen Arbeit der Teilnehmer nieder und stellen somit ein entscheidendes Potential zur Entwicklung architektonischer Modelle dar.

Die Salons

Diese öffentlichen Abende werden 1997 in etwa sechswöchigem Turnus organisiert. Zwei bis vier geladene Gäste werden mit Redebeiträgen von jeweils einer viertel Stunde konträre Standpunkte zu Themen beziehen, die in der anschließenden Diskussion erörtert werden. Um den Charakter einer Podiumsdiskussion zu vermeiden, wird die Diskussion eher als „Round Table" angelegt. Dabei soll die Brücke zwischen Referenten und Publikum geschlagen werden, um ein Thema gemeinsam weiterentwickeln zu können.
Durch Aufteilung der Abende an verschiedene Vorbereitungsgruppen, erhält jeder Abend einen eigenständigen themenbezogenen Charakter. In diesem Sinne ist auch vorgesehen verschiedene Orte im Berliner Stadtgebiet als Veranstaltungsorte zu nutzen.

Transcript Discussion 26. June 1997

Stefan Bullerkotte:
Vielen Dank für die Referate.
Zu Beginn möchte ich eine Frage formulieren, die sich auf die Thesen von allen drei Referenten bezieht: Welche verschiedenen Formen der Erinnerungskonstruktionen gibt es? Da Wolfgang Ernst angesprochen hat, daß wir die Identitätsfrage mit der Globalisierung verbinden, zielt meine erste Frage in diesen Zusammenhang. Sie schließt auch Arnolds "Memory Arena" mit ein, zu der Wolfgang Ernst eher eine Gegenthese bezieht. Wolfgang Ernst, du beziehst dich nicht auf das Individuum in dem Sinn, daß das Individuum durch seine Erinnerung mit der Welt in Kontakt tritt, sondern Du stellst die These auf, daß die Welt nicht mehr Träger der Erinnerung sein wird.

Wolfgang Ernst:
Ja, ich halte die Idee der persönlichen Erinnerung für eine Konstruktion, die uns als Individuum davon ablenken soll, die Mechanismen zu durchschauen, die über Gedächtnis wirklich verfügen. Also gerade die Idee, daß Erinnerung etwas ist, was wir mit uns individuell herumtragen, das in uns heranwächst, womit wir auf die Welt reagieren, lenkt davon ab, sich klar zu machen, in welch hohem Maße persönliche Erinnerung ein Effekt zum Beispiel der Archive ist. Arnoldt Dreyblatt hat uns ein solches Archiv gezeigt. Sie geben die Grammatik dessen vor, was wir überhaupt erinnern können.

Stefan Bullerkotte:
Das heißt, Du bestreitest nicht die Existenz dieser persönlichen Erinnerungen oder Erfahrungen und daß man damit die Welt sieht, jeder auf seine Art, sondern Du sagst nur letztendlich, daß das, was wir als persönlich begreifen, hochgradig, vielleicht auch unbewußt manipuliert ist.

Wolfgang Ernst:
Ja, und das es ein bißchen problematisch ist, das wir den Begriff des Gedächtnisses immer so sehr an die Menschen koppeln.

Meike Schalk:
Wie erklärst Du dann das Bedürfnis oder die Sehnsucht nach Erinnerungen. Wie erklärst Du einen Begriff wie Nostalgie oder, daß Erinnerung für viele wahnsinnig wichtig ist und daß Leute Angst haben Dinge zu verlieren. Fast in jeder Kultur ist es ein ganz großer Aspekt sich festzuschreiben, eine Tradition aufzubauen. Eine Wurzel zu finden, etwas, das niemals verloren geht.

Wolfgang Ernst:
Dieser Wunsch etwas zu schaffen, das immer bleibt, ist etwas sehr abendländisches. Es gibt eine Menge anderer Kulturen, die andere Umgangsweisen mit Vergangenheit haben. Die die Vergangenheit auch in der erzählten Form ständig aktualisieren, Kulturen, die überhaupt nichts dauerhaft festschreiben. Daß wir ein Bedürfnis nach Erinnerung haben mag damit zusammenhängen, daß unsere Idee des Subjektes, unserer eigenen Identität, darin besteht.
Wir sind ja auch dahin trainiert, die verschiedenen Schichten, aus denen wir selber bestehen, die verschiedenen widersprüchlichen Abfolgen von Erfahrungen, die wir sind - die eigene Fragmentalität, die eigene Widersprüchlichkeit, die eigene Zusammenhangslosigkeit, immer wieder zusammenzubringen unter der Idee: Das sind trotzdem wir. Das ist unser eigenes Subjekt, unser eigenes Individuum. Und das Zusammenhalten geschieht durch das Medium der Erzählung, Selbsterzählung, wie sie die Psychater aus uns herauslocken, im Unterschied zu der Struktur unserer Träume nachts, die ganz anders und zusammenhangslos sind.

Also, um die Idee eines Individuums und des Subjekts und des Selbst an uns zu retten, bedürfen wir dieser Mechanismen zu denen ja auch der Kult der Erinnerung gehört. Es wäre auch heute denkbar, so wie es früher denkbar war, das wir als Wesen ganz anders an unsere Umwelt angeschlossen sind. Früher war es ein religiöses System, aber im Moment müssen wir alles durch uns selbst leisten. Ich denke, daß durch die Entstehung der neuen Netze und dadurch, daß wir mit unseren Fingern mit der Tastatur von Apparaten verwachsen sind, die uns mit der ganzen Welt vernetzen, wir gleichzeitig davon entlastet werden, den Zusammenhalt immer als eigenes Individuum leisten zu müssen.

Maria Marchetta:
Ich möchte gerne dem was Du am Anfang gesagt hast, etwas entgegensetzen. Ich sehe das Stichwort Erinnerung nicht als so etwas Ehrenwertes, die "Identitätsstiftende Erinnerung", sondern ich möchte jetzt das Faktum der gefährlichen Erinnerung einführen. Gerade aus der Konfrontation und Begegnung mit Menschen, die sehr Schlimmes erlebt haben, behaupte ich, daß es Eingeschliffenes gibt, das man nachher nicht mehr erinnern würde, aber verdammt nochmal erinnern muß. Ich sehe dieses Problem und die Situation der Wechselwirkungen von Kontexten und gesellschaftlichen Erinnerungsformen und Metaphern zum Individuellen. Aber es gibt durchaus Erfahrungen, die einfach eingeschrieben sind und ich würde diese Elemente stark machen wollen.

Publ.:
Sie bringen jetzt etwas anderes hinein, nämlich die Kategorie des Moralischen. Sie setzten eine Verbindung zwischen Erinnerung und Moral. Sie fordern Erinnerung aus moralischen Gründen.

Wolfgang Ernst:
Hier ist z.B. Israel als Staat interessant sowie die DDR als Staat interessant war. Dort wurden Erinnerungszeichen als Ausrufezeichen gesetzt! Dieses ausgesprochene oder unausgesprochene: "Erinnere Dich!", zeigt, da ist nichts, was einfach so wächst wie etwa ein Individuum, sondern das wird in sie hineingepflanzt und man kann als Kollektiv, auch als Staat ein Kollektiv zur Erinnerung bringen. Erinnerung ist also nicht die Spur von etwas sondern der Effekt eines Gesetzes, einer Setzung. Man denke an die Denkmäler mit denen die Landschaft Israels besetzt war oder auch an den ganz emphatischen und parteiischen Erinnerungsbegriff der sozialistischen Staaten. Der unterscheidet sich ja natürlich radikal von der „tabula rasa", mit der wir in der Bundesrepulik noch aufgewachsen sind. Hier traute sich niemand und schon gar nicht der Staat Erinnerung als Befehl zu setzen.

Arnoldt Dreyblatt:
Ich verstehe, was Du sagst, doch für die Leute in Israel ist der Befehl: "Erinnere Dich!" ein traditioneller Befehl. Religiöse Menschen in Israel verstehen das anders. Der Staat sagt, was man erinnern soll, z.B. die Shoa als Pflicht, aber der Ursprung dieses Befehls liegt woanders. Ich glaube, was du meinst, ist mißverstanden: es ist eine staatliche Pflicht eine fixierte Idee oder Erinnerung zu speichern, aus irgendwelchen Gründen hat das für dich mit der Wichtigkeit des Staates zu tun. Man kann eine solche Pflicht von außen oder von innen haben, ohne eine fixe Idee.

Andrea Benze:

Ich finde es immer noch interessant, Orte oder Räume in Verbindung mit Erinnerung zu sehen. Maria Marchetta hat in ihrem verschiedene Modelle aufgeführt, wie an Orten erinnert wird, wie Orte für bestimmte Erinnerungen stehen oder sie ausdrücken. Wolfgang Ernst hat diese Thesen dann über den Haufen geschmissen, indem er gesagt hat: Gebäude sind eigentlich nur der Speicher und Umnutzung ist die einzige Möglichkeit, Gebäude weiter zu verwenden. Bedenkt man z.B. auch die antiken Erinnerungstechniken, die von Gebäuden ausgehen, kann man es natürlich als Technik abtun aber ist die Verbindung zwischen Gebäuden und Erinnerung wirklich nur Zufall?
Ich als Architektin denke immer noch, es gibt einen pesönlichen Bezug über die Erinnerung zu Orten oder Orte lösen Erinnerungen aus.

Wolfgang Ernst:

Ja, Gebäude und Räume lösen Erinnerungen aus. Genau in dem Sinne, wie Bilder Bilder assoziieren. Ich versuche sozusagen den Mechanismus, der da stattfindet, der genauso ist, wie du ihn jetzt beschrieben hast, in kybernetischere Begriffe zu fassen als das der Kult der Erinnerungen tut. Erinnerung oder kollektives Gedächtnis, solche Begriffe werden dann schnell herangezogen. Was passiert ist eigentlich Reaktionsformation: die Bilder abgleichen indem wir rückgekoppelt werden an Bilder, die wir schon gesehen haben, die uns kulturell auch eingeimpft worden sind. Gestalterkennung, wie bestimmte Architekturen darauf reagieren oder auch nicht. Also alles das, woran jetzt die Informatik bei den Computern auch arbeitet, nämlich Gestalterkennung zu simulieren, zeigt uns, daß das Prozesse sind, die vielleicht weniger mit emphatischen Begriffen wie Erinnerung sondern durchaus auch mit technischen Begriffen wie Gedächtnis bezeichnet werden können.

Meike Schalk:
Aber hängt es denn nicht mit etwas ganz anderem zusammen als mit den neuen Medien, einfach mit dem simplen Fakt, daß wir Erfahrungen machen in bestimmten Räumen und bestimmte Räume uns überhaupt nichts sagen? Denn möglicherweise an diesen Denkmälern, die, wie du sagst mit Ausrufezeichen:"Erinnere dich!", gehen wir vorbei und sehen sie nicht. Wir fahren an bestimmte Denkmäler, wie wir es als Schulausflug gemacht haben, und haben uns immer nur totgelacht. Es hat uns nichts bedeutet. Andersherum gibt es bestimmte Orte, die uns sehr wohl etwas sagen. Also, wichtiger ist, ob wir persönlich involviert sind. Wir haben da oder dort etwas erlebt. Uns hat niemand hingeschickt, sondern es ist eine Art eigene Entdeckung gewesen. Erinnerung wird wieder etwas ganz Individuelles.

Arnoldt Dreyblatt:
Ein Ort kann mir genauso sagen, was ich erinnern soll, wie ein Objekt. Das Ravenbrückdenkmal im Warschauer Ghetto sagt mir etwas über Helden. Es sagt mir, wie ich die Situation interpretieren soll. Die Schwierigkeit mit Räumen oder Objekten in Verbindung mit Erinnerung ist, Objekte zu schaffen, deren Bedeutung offen ist, die dem Individuum die Möglichkeit lassen, das Objekt selber zu interpretieren. Man muß sich auf Grundlage der Information als Betrachter sein eigenes Urteil bilden können. - Ich denke es gibt Verbindungen der Menschen zu Orten, ähnlich wie in der Tierwelt, wo die Katze immer zum gleichen Ort zurück kommt.

Wolfgang Ernst:
Ich sehe die Betonung der persönlichen Erinnerung, das individuelle Entdecken von Erinnerungsorten, aber auch die vielen autobiographischen Filme, all diese neuen Entdeckungen der privaten Erinnerung als einen musealen, nostalgischen Gegeneffekt gegenüber der Tatsache, daß die Macht über Erinnerungen mehr denn je auf der Seite der Institutionen liegt. Auch die Architektur in den Städten kann immer verspielter mit Historie umgehen, weil die Schaltung des Gedächtnisses längst in anderen Medien stattfindet. Man hatte lange Zeit eine Art zentrales Gedächtnis, ein Speichermedium. Das braucht die Stadt/Architektur jetzt nicht mehr zu sein, weil sie durch die neuen Medien ersetzt wurde, die quer durch die Städten installiert wurden. Diese neue Installation kann als Speichermedium viel effektiver eingesetzt werden. Freigesetzt wird dann eben genau die Wiederentdeckung von Historie in Städten, wie der Wiederaufbau des Hotels Adlon (in Berlin) oder die Wiedererrichtung der Frauenkirche in Dresden. Das mündet in diese scheinbare Reversibilität von Zeit oder eben auch auf unserer persönlichen Ebene, der neue Kult sich persönliche Erinnerungsräume in der Stadt zu schaffen. Ich sehe dieses als eine Art luxuriösen "Retro-Effekt" angesichts der Tatsache, daß die persönliche Erinnerung ihren Einfluß auf die großen Fragen des Gedächtnisses so sehr verloren hat. Desswegen - so schön es ist, daß das Thema der Erinnerung in der Architektur diskutiert wird und dafür steht ja der Nachmittag heute selbst - sehe ich es in dem Kontext, daß Erinnerung in der Kunst und Kultur um so lieber thematisiert wird, je mehr die machtvolle Verschaltung der Zukunft des Gedächtnisses ganz woanders vorgenommen wird. Dieser Vorgang wird umso undurchsichtiger, je mehr wir die Erinnerung gekoppelt an Individuen thematisieren.

Publ.:
Würden sie denn sagen, daß umgekehrt in dem Zeitraum bevor das Thema Erinnerung so in den Mittelpunkt rückte, es so etwas wie ein Erinnerungsverbot gab? Würden sie da auch eine gesellschaftliche Diagnose anbieten, sowie jetzt für die Konjunktur des Themas?

Wolfgang Ernst:
Es ist vergleichbar mit der Rückkehr des Wortes Geschichte in Deutschland. Das war lange Zeit, zumindest in Westdeutschland, überhaupt kein Thema. In den 70ern wurde beinahe die Abschaffung von Geschichtsunterricht in der Schule gefeiert. Genauso, wie die Familie fast abgeschafft worden wäre. Doch in dem Moment, wo sich eine Gesellschaft als wiedervereinigte begreifen will, braucht sie wieder eine Bergründung in den Begriffen von Kontinuität über alle Diskontinuitäten hinweg und bedarf wieder Begriffen wie Geschichte, um diese Kontinuität wieder herstellen zu können. Also wir haben eine Zeit lang - es war eine Errungenschaft der Nachkriegszeit - in vielen postindustriellen Gesellschaften den Stand erreicht, wo wir ohne diesen bedeutungs- und sinnstiftenden Ballast von Worten wie Geschichte auskommen konnten. Das sich das jetzt nochmals ändert, sehe ich auch nicht als eine wirkliche Wiederkehr, sondern als einen Retro-Effekt an, ein letztes Aufflackern angesichts der Tatsache, daß es technologisch endgültig vorbei ist mit solchen Begriffen sinnvoll zu arbeiten.

Publ.:
Konnten wir mit der Geschichtslosigkeit auskommen oder mußten wir damit auskommen? Denn meine Erfahrung ist die - ich gehöre zu der Generation, die in dieser Zeit aufgewachsen ist - daß das Fragen nach Geschichte keinen Sinn hatte. Es gab keine Antwort. Die "tabula rasa", von der sie vorhin sprachen, war eben nicht da. Man wußte, es mußte eine geben aber sie war nicht zu bestimmen. Und allegorisch für die Situation ist das Faktum, daß man in Ost-Berlin gar keinen Stadtplan von Gesamt-Berlin kaufen konnte. Der hörte an der Mauer auf und West-Berlin war weiß.

Wolfgang Ernst:

Die Westberliner haben kurz vor dem Mauerfall begonnen, die Mauer zu ästhetisieren. Es war auch kein Bedürfnis auf westlicher Seite da, den Ost-Berliner Stadtteil unbedingt abzulaufen. Es gab eine Generation, die den Zustand Berlins als geteilte Stadt ästhetisch fundiert hat. Welche Interessen dahinter standen, daß lange Zeit das Wort Geschichte nicht gedacht worden ist, das hat vielleicht auch mit uns zu tun. Ich verstehe das als jemand, der die Geschichtslosigkeit noch mit erlebt hat und jetzt vielleicht etwas mit Mißtrauen sieht, wie in Form von zentralen historischen Museen in Berlin oder auch in Bonn plötzlich wieder große (geschichtliche ) Erzählungen eingeführt werden. Wir hatten eine Generation, die gezeigt hat, das sie ohne das geschichtliche Seminar existieren konnte und es kommt jetzt nochmal als symbolischer Diskurs zurück und deswegen - so schön es auch ist, daß jetzt deutsche Geschichte wiederholt aufgearbeitet wird - sehe ich auch in dieser ganzen Denkmaldiskussion, die jetzt tobt, auch wieder eine Ablenkung der Gedächtnisenergien auf die symbolische Ebene. Also die Gestaltung eines Denkmals wird immer noch heißer debattiert als die Frage, wie zugänlich sind Archive. Eben diese Erfahrung, die Arnold im geheimen Staatsarchiv, das auch nicht nur zufällig so heißt, in Berlin an der Archivkasse gemacht hat, spiegelt den Mechanismus wider. In Deutschland leben wir mit einem Staat, der das Gedächtnis des Staates wie sein eigenes Betriebsgeheimnis immer noch verwaltet, während es in Amerika und in England ein Recht auf Information oder eine Verpflichtung zur Information der Öffentlichkeit gerade der Gedächtnishüter gibt. Das ist nochmals zu überdenken und ich bin Arnold sehr dankbar, daß er das Archiv zur öffentlichen Arena erklärt hat.

Arnoldt Dreyblatt:

Ein Freund von mir hat ein Video kurz nach dem Mauerfall gedreht, in dem er Leute im Osten und im Westen gefragt hat: Was ist Geschichte? Das Thema war so heiß, das die Leute fast einen Herzinfarkt bekommen hätten. In Amerika kann hingegen viel gelassener das Wort Geschichte erwähnt werden. Das ist nur ein Kommentar ....

Publ.:
Was im Bereich der bildenden Kunst als Konjunktur der Erinnerung anklang, ging nicht nach dem Mauerfall los, sondern ging von Frankreich aus mit der Spurensicherung Mitte der 70er Jahre und den Mauerfall hatte man vorausgesehen. Er trat zu einem Zeitpunkt ein, als diese Entwicklung der Beschäftigung mit Erinnerung bereits einen Kulminationspunkt erreicht und fast schon wieder überschritten hatte. Ich möchte das eher in zwei Perioden unterteilt sehen: Die Spurensicherung aus Frankreich Mitte der 70er Jahre hatte das Thema auf intellektueller Ebene wieder eingeführt was rein intellektuell stigmatisiert war, dann kam ein zweiter Aspekt das Einsetzen politischer Erdbeben mit seismographischen Nachbeben, die in den Bereich der Erinnerungstheorie wiesen. Also, ich wollte den Fokus von der Gegenwart und der Wiedervereinigung ablenken. Wir haben das ja auch in den USA als "back to the roots" von den Schwarzen. Die Beschäftigung mit Erinnerung ist eine globale Erscheinung unserer industrialisierten Gesellschaft.

Arnoldt Dreyblatt:
In den USA geht es derzeit fast nur um die Frage der Identität und Solidarität zu einer Gruppe. Nicht nur Minderheiten, alle sind auf der Suche nach ihrer Identität (Nationalität, gender, etc.)

Wolfgang Ernst:
Wenn die Kunst tatsächlich in den 70er Jahren (das wird eine Antithese) vorweggenommen hat, was dann später gesellschaftlich nachgeholt wurde, diesen neuen Sinn für Spuren der Erinnerung, dann finde ich es wichtig zu beleuchten, was die Kunst jetzt zum Thema Erinnerung beitträgt - angesichts der Tatsache, das diese Themen jetzt allgemein sozialisiert worden sind.
Es gibt immer mehr Kunstformen, die nicht mehr die individuelle Nabelschau oder die Spurensicherung oder eigene Werke in den Mittelpunkt stellen sondern versuchen, Strukturen zu erfassen. Also etwa Bankprojekte simulieren. Arnolds Archivprojekt gehört auch dazu. Er setzt eine Struktur ein, die Administration selbst und es ist nicht mehr klar, ist es ein Kunstwerk oder ist es eine kritische Abbildung von Institutionen. Oder Housing-Künstler, die für Monate selbst eine Hotelsituation simulieren mit all den Zeichen der Verwaltung etc. Ich sehe in diesen Kunstprojekten ein Gespür dafür, das es jetzt Zeit ist, sich um Dispositive/Strukturen zu kümmern, die quer durch die Individuen hindurch laufen. In dieser hinsicht bin ich hoffnungsvoll, daß die Kunst Dinge ahnt, um die sich Theoretiker im Jahr 2000 auch bemühen werden.

Stefan Bullerkotte:
Ich möchte das Gespräch von der Kunstdiskussion wegleiten und wieder zu einer Diskussion hinführen, die stärker auf den Ortsbezug eingeht. Also in dem Sinne, wie jetzt Gedächtnisarbeit im Alltagsleben bei unserer täglichen Bewegung in der Stadt stattfindet. Nochmal auf Wolfgang Ernst eingehend, der sagt: die Stadt ist von ihrer Gedächtnisarbeit befreit, möchte ich etwas dagegenhalten. Berlin dient hierbei als Beispiel für einen Prozeß, der auch in anderen Städten stattfindet. In Berlin wird vesucht eine lokale Identität besonders hervorzuheben, was sich sehr stark den Vorschriften niederschlägt, die sich auf den Bau von Häusern beziehen (Gestaltungssatzung). Ich denke, was dort vorgeschrieben wird über alle möglichen hierarchischen Ebenen der Legislative, ist eine Gedächtnisarbeit, eine vorgeschriebene Gedächtnisarbeit. Ich glaube nicht, daß die Stadt von Gedächtnisarbeit befreit ist, sondern im Gegenteil, diese Gedächtnisarbeit wird sehr stark betrieben.

Wolfgang Ernst:
Das besteht gleichzeitig mit der Löschung eines anderen Gedächtnisses für das Berlin auch immer stand, nämlich das Gedächtnis der Brachen.

Stefan Bullerkotte:
Mit der Löschung der individuellen oder freien Assoziierbarkeit wird das Gedächtnis gelöscht. Es wird etwas erstellt, das letztendlich verhindert, was alle die hier sitzen fordern: ein freies Assoziieren zu Räumen und Gedächtnis.

Publ.:
Das Problem ist, daß das Stadtbild ein institutionalisierter Blick ist, ein Bild wird verordnet. Es wird festgelegt, wie es auszusehen hat. Und deshalb kann Stadt nicht mehr als Assoziationsraum für Individuen funktionieren sondern nur als allgemein globales Symbol, daß zwar in einem demokratischen Prozeß entstanden ist, aber dann in eine Entscheidung mündet anstatt, daß ein perspektivischer Blick entsteht, der am Ende wieder aufgebrochen werden könnte in eine Art von Multiperspektiven. Die Frage ist, welche Strategien kann man entwickeln, um die Stadt wieder für verschiedene Leute belegbar zu machen, so daß sie ihre eigenen individuellen kleinen Identitäten entwickeln kann.

Wolfgang Ernst:
Wenn wir uns fragen, was können wir machen, um diesen Freiraum der ganz persönlichen Ausbildung von Assoziationen zu retten, gegenüber den bestimmenden Planungsvisionen stellt sich die Frage, wie kann man gegen diese Festlegung, die persönliche Bildung von Assoziationen sichern.
Reproduzieren wir nicht die Logistik der Stadtplaner indem wir diese Frage so formulieren? Indem wir umgekehrt festschreiben wollen, daß am Prenzlauer Berg in Berlin z.B. nicht jedes Haus renoviert werden soll oder daß Freiräume für Techno-Clubs z.B. verbleiben müssen, legen wir auch Bilder fest. Ich bin viel optimistischer, daß sich diese Initiativen von alleine fortschreiben. Die Techno-Kultur sucht sich ihre Räume. Das sind weder Städteplaner, noch die Architekten, noch die Theoretiker oder Soziologen, noch die Künstler, eventuell - obwohl die an der Grenze stehen - die dafür sorgen müssen, das sich solche Räume herausbilden. Da ist im Moment eine kulturelle Bewegung, die sich selber fortschreibt trotz aller Stadtplanungen. Ich vertraue mehr auf die Energien dessen, was wir theoretisch noch gar nicht kontrollieren. Die Verantwortung, daß Freiräume verbleiben für persönliche Stadträume, liegt wirklich nicht bei uns.

Maria Marchetta:
Ich finde deine Haltung ganz sympatisch und zum Teil würde ich da auch zustimmen. Nur ich glaube man darf nicht aus dem Blick verlieren, daß es auch eine tatsächliche Kapitalfrage ist. Manche geplante Unterstützung kann Initiativen aus einem Nischendasein heraus führen. Ich würde da auf die Frage, was könnte man tun, möglichst viele demokratische Architekturwettbewerbe und möglichst viele zwei- dreistufige Sachen vorschlagen, so daß die Gebäude nicht so entstehen und möglichst viele am Bauen beteiligt sind.

Andrea Benze:
Ich finde möchte nochmal auf einen anderen Aspekt hinweisen und komme nochmal zurück auf die Beispiele der verschiedenen Denkmäler, die Maria Machetta eben genannt hat. Es gibt für mich da ein Moment, indem Orte einen speziellen Inhalt transportieren, der nicht nur individuell ist sondern den andere wiedererkennen und es gibt offenbar mehrere Methoden, sich da heranzutasten, das hatte sie ja auch gesagt: Authensität oder Rekonstruktion oder der pädagogische Ansatz. Im Gegensatz dazu steht Wolfgang Ernsts These, daß jeder Raum nur Speicher ist und die Stadt hat an Bedeutung verloren hat. Ich sehe das im Konstrast zu unserem Raumempfinden. Überspitzt gesagt, glaubst du, wir schlafen nicht mehr in Betten sondern im Internet, weil sich unser Raumempfinden so verändert hat?

Wolfgang Ernst:
Gibt es denn wirklich Orte, die einen Inhalt haben? Ich nenne jetzt mal das Beispiel Ravensbrück. Die unmittelbarsten Wochen nach der Räumung des Lagers. Da ist das sozusagen als eine Baustelle benutzt worden. Da ist, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, wirklich auch noch das Krematorium als Toilette benutzt worden. - So - also, wo ist der Inhalt von Orten. Der war in dem Moment vielleicht der realste Moment, für einen Moment brach das Reale durch.

Maria Marchetta:
Aber was ist das Reale? Also ich würde dich da gleich unterbrechen, und sagen, es geht natürlich. Denn, Ort als Ort würde ich auch bezweifeln, was das genau für ein Gedächtnis ist. Da möchte ich mich nicht äußern. Aber die vielen einzelnen kleinen Geschichten daran und für mich ist die Frage nach der Form und des Gedächtnisses viel zentraler als die nach dem Ort und des Gedächtnisses. Nehmen wir als Beispiel Ravensbrück. Wie ich es auch gestalte und es ist immer eine Gestaltung, selbst wenn ich beschließe, nichts zu tun, transportiere ich über die Form Implikationen und über diese möchte ich mich gerne unterhalten.
Ich denke, wir greifen tagtäglich gestaltend in den Alltag ein und wir haben unsere Weltbilder, unsere Menschenbilder, die in die Gestaltung einfließen.

b e r l i n