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Subject: Kunst-Stadt oder die Urbanisierung des öffentlichen Raums
From: pit <pit@icf.de>
Date: Sun, 22 Jun 1997 19:00:10 METDST


* * * * *


"scheinschlag" proudly presents:


Kunst-Stadt oder die Urbanisierung des öffentlichen Raums


21. / 22. Juni 1997, Hybrid WorkSpace




I. Die Spur der Steine


In seinem begriffsgeschichtlichen Wörterbuch "Etymologie" führte im
sechsten Jahrhundert n. u. Z. Isidor von Sevilla die Bedeutung des
Wortes "Stadt"/"City" auf zwei Ursprünge zurück:
Urbs als Stadt der Steine und Civitas als Stadt der Menschen.
Daß der Stein das Bewußtsein bestimmt, galt damals schon als
ausgemacht: Anders als Augustinus und die früheren Kirchenväter,
die davon ausgingen, daß das Christentum auch in den Tempeln der
Ungläubigen praktiziert werden könne, ließ Isidor die Stadt
gewordenen Steine der Heiden abreißen, weil er, wie der
amerikanische Stadtforscher Richard Sennett ausführt, glaubte,
"daß der Christ in dem mühevollen Kampf um das spirituelle Leben
eine eigens für ihn entworfene urbs brauche".


II. Die Spur des Betons


Seit dem Ende der 70er Jahre, spätestens aber in den 80er Jahren
ist in den bundesdeutschen Städten infolge des von Mitscherlich
geäußerten Unbehagens über die "Unwirtlichkeit der Städte" eine
Wiederbelebung der Innenstädte zu verzeichnen. Konnte man damals
noch annehmen, daß die "Revitalisierung" insbesondere der
innerstädtischen Altbauquartiere mit einer Stärkung der städtischen
Öffentlichkeit, der "civitas", einhergehen, wie es der Grandseigneur
der behutsamen Stadterneuerung Hardt-Waltherr Hämer immer wieder
einklagte, so stellte sich bald das genaue Gegenteil heraus: aus
der "Revitalisierung" wurde zu Beginn der 90er Jahre die
"Reurbanisierung" , aus neuen innerstädtischen Lebens - und
Kommunikationsformen die "neue Urbanität" (Häußermann/Siebel),
weil der "städtische Käufer", um Richard Sennetts Zitat aufzunehmen,
"im mühevollen Kampf um das urbane Leben eine eigens für ihn
entworfene städtische Inszenierung brauche". Aus der "Unwirtlichkeit
der Städte" wurde die postmoderne "Unwirklichkeit der Städte".
(Scherpe)

III. Öffentlichkeit


Je mächtiger die Spur der Steine und des Betons, je verschwindender
die Stadt der Menschen. War die Revitalisierung der Innenstädte in
den Achtzigern noch ein Bekenntnis zur städtischen Öffentlichkeit
und eine Kampfansage gegen die funktionale Trennung der Stadt im
Sinne der Charta von Athen, ist Reurbanisierung heute eine
Kampfansage an Stadtöffentlichkeit:
Nicht nur werden Freiräume, Grünflächen und öffentliche Räume mit
Baukörpern besetzt, auch die Zugangsberechtigung zu den verbliebenen
Stadträumen verschiebt sich mehr und mehr in Richtung einer
"qualifizierten Öffentlichkeit" (Bahn AG). Erwünscht ist nicht
mehr jeder, unabhängig seiner sozialen und sonstigen Zugehörigkeiten,
sondern nur noch jeder Konsument.
Damit geht die Großstadterfahrung, "Fremden" und "Anderen" zu
kommunizieren hinter der Konsumerfahrung verloren, mit "Anderen"
im gleichen Kaufhaus zu verschwinden.


IV. Veranstaltung


Im Eingangsbereich der Orangerie liegt ein Gästebuch aus. Auf dem
Buchrücken steht die Frage "Was ist Urbanität?" Jeder Besucher der
Veranstaltung ist angehalten, im Gästebuch darauf eine Antwort zu
geben.
Im Eingangsbereich liegen Beilagen von "taz" und "scheinschlag" zum
Berliner Masterplan und den Innenstadt- Aktionstagen. Während der
Veranstaltung gibt es eine Endlosschleife mit Dias, die abwechselnd
Menschen und Baukörper zeigen, wobei im Laufe der Veranstaltung
immer mehr Baukörper und immer weniger menschliche Körper zu sehen
sind.
Auf eine Seite des Raums werden per Beamer Investorenfilme zu
Berliner Bauprojekten am Potsdamer Platz gezeigt. Auf der anderen
Seite des Raumes werden Dias mit Schlagzeilen von taz und
scheinschlag als Kommentierung zum Baugeschehen der Hauptstadt
gezeigt.
Auf dem Podium wird die Frage wiederholt, die auf dem Gästebuch
steht. Einer geht mit dem Mikro durch den Saal und fragt "Was
ist Urbanität?" dann die Frage "was ist an Kassel urban?". Sind
es die Bauwerke, die Cafés, Restaurants, Läden und Geschäfte oder
die Menschen, die sich, gleich wo sie stehen und sitzen über die
Kunst und das Leben unterhalten?
Weiterführung: Dieter Hoffmann-Axthelm und die Planungen für eine
Reurbanisierung der Kasselaner Unterneustadt.
Dieter Hoffmann-Axthelm und der Berliner Masterplan.

Die Spur der Steine.

Zitate aus dem Masterplan und dem Zeit-Dossier von Klaus Hartung,
das gewissermaßen andere Gästebuch, das Gästebuch der Steine.

Widerspruch. Einkaufen ist schöner. Schöner als Reden.
Der Ordnerdienst (mit Ordnerbinden um den Oberarm) beginnt nach
und nach , wahllos einzelne Besucher von ihren Plätzen zu entfernen
und vor die Tür zu begleiten. Gegenüber eventuellem Protest der
Betroffenen oder aus dem Publikum bleibt das Podium unberührt.
Die Beiträge vom Podium reduzieren sich in Folge nur noch auf
Zitate, die allesamt Antworten auf die Frage "was ist Urbanität"
sein könnten. Zitate von Arbeitsgemeinschaften der Geschäftsleute,
der Polizei, von Stadtplanern, von Obdachlosen, von Migranten und
so weiter. Damit geht das Podium in der Diskussion auf und verläßt
seinen Platz, mischt sich (allerdings mit Mikro) ins Publikum, die
Veranstaltung wird wird von der Podiumsdiskussion zum work in
progress, zum hybrid work space. Inzwischen geht die Entfernung
aus dem Publikum durch den Ordnerdienst weiter. Damit werden zwei
Linien sichtbar.
Die Urbanisierung des öffentlichen Raums, in dem Menschen aus
Kommunikationszusammenhängen gerissen und durch Baukörper ersetzt
werden. Visuell wird dies dadurch erfahrbar, daß eine
Echtzeitkamera die sich lichtenden Reihen im Publikum auf eine
Wand projiziert, auf der gleichzeitig über Diaprojektor immer neue
Baukörper entstehen, die sozusagen die menschliche Lücke füllen.
Andererseits deuten die beginnenden Tumulte und die Einbeziehung
des Podiums unter die Teilnehmer die Wiedergewinnung von
Öffentlichkeit an. Ausgang ungewiß, bzw., eine vorläufige Antwort
auf die Eingangsfrage.

Konzept: Stefan Strehler, Ulrike Steglich, Uwe Rada
Teilnehmer: Stefan Strehler, Ulrike Steglich, Uwe Rada
Gäste: Innenstadtaktionstage Kassel, Tagessatz Kassel