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Subject: [innercity] Schnelldurchlauf
From: nobody@REPLAY.COM (Anonymous, by way of Pit Schultz <pit@icf.de>)
Date: 27 Jun 1997 14:05:38 +0200


* * * * *

Schnelldurchlauf

Fuenf Stationen in der Geschichte von Raumkontrolle, Oeffentlichkeit und
Strassenkampf.

von Katja Diefenbach

*Um die Pest in den Staedten einzudaemmen, wird am Ende des 17. Jahrhunderts
ein neues sozialmedizinisches Reglement entwickelt.* Sobald an irgendeinem
Ort Zeichen der Krankheit auftauchen, tritt ein strenges System der
Ueberwachung und Registratur in Kraft: der Raum wird in Viertel unterteilt;
jedes Viertel wird der Aufsicht eines Intendanten unterstellt, jede Strasse
unter die eines Verwalters. Wer das strikte Ausgangsverbot missachtet wird
mit dem Tode bestraft. Gleichzeitig finden intensive Kontrollen und
buerokratische Manoever statt: minutioes wird der Verlauf der Erkrankungen
aufgezeichnet; auf zentrale Anordnung erfolgt der Abtransport der Leichen
und die Saeuberung der Strassen und Wohnungen; an jeder Ecke ist Miliz
stationiert, um "Diebereien und Pluenderungen" zu verhindern.
Die Pest ist der historische Ausnahmezustand, in dem quasi idealtypisch
moderne Disziplinierungstechniken einstudiert werden, die grosse Probe aufs
Exempel. Die Lepra wurde mit dem Ausschluss der Aussaetzigen beantwortet,
die Pest hingegen mit einer neuen Technik der Disziplin. Das eine Modell
arbeitet mit dem harten Dualismus von normal/anormal, Einschluss/Ausschluss,
das andere mit einem komplexen Raster von Erfassungstechniken. Beide Modelle
naehern sich erstmals im 19. Jahrhundert einander an. Mit den
buerokratischen Techniken der Verwaltung werden Landstreicher, Bettler,
Irre, Gewalttaetige, Arme und Kriminelle identifiziert - eine neue Klasse
sozialer Delinquentinnen, die der Kapitalismus produziert. Der
institutionelle Rassismus, der in den heutigen Staedten mit einem
differenzierten Reservoir von Kontrollen und Stigmatisierungen auftritt, um
den Ausschluss und die Abschiebung von Fluechtlingen zu organisieren, setzt
sich aus ihnen zusammen.


Der Urbanismus ist ein ideologisches Phantasma, das davon handelt, Staedte
raeumlich zu programmieren. Er versucht, eine bestimmte Geographie des
Moeglichen und des Unmoeglichen, des Gehbaren und Nicht-Gehbaren zu
schaffen. Das sozialmedizinische Reglement zur Bekaempfung der Pest zeigt,
dass jeder moderne Verwaltungsakt von Anfang an eine raeumliche Komponente
aufweist. Georges Eugene Haussmann, Mitte des 19. Jahrhunderts Stadtpraefekt
unter Napoleon III., hat Paris innerhalb von zwanzig Jahren in einem
exemplarischen urbanistischen Gewaltakt neu strukturiert. Haussmann leitete
eine soziale Vereinheitlichung der "quartiers" ein, eine Trennung der
Reichen von den Armen in oekonomisch ueberschaubaren Einheiten, eine
Oekologie der Klassen. Fuer die Hausbesitzer ist dieser
Modernisierungsschritt rational, weil sie nun ihre Investitionen besser
kalkulieren koennen. Um die neu geschaffenen "quartiers" zieht Hausmann die
"grands boulevards". Die aufsehenerregend breiten Strassenzuege, die vor
ihrer Fertigstellung mit Zelttuch verhaengt und wie Denkmaeler
enthuellt werden, dienen der Aufstandsbekaempfung. Haussmann will den Bau
von Barrikaden ueber die gesamte Breite der Strasse verhindern. Bleibt
hinzuzufuegen, dass die Pariser Kommune 1871 nicht nur end-gueltig die
Illusion zerschlaegt, dass das Proletariat zusammen mit dem Buergertum das
Werk von 1789 beenden wird, sondern auch Haussmanns Plaene durchkreuzt: Die
Barrikaden entstehen aufs neue, ziehen sich ueber die grossen Boulevards und
reichen oftmals bis zum ersten Stock.

*Abgeschlossene Stadtviertel sind das Produkt einer oekonomischen
Rationalisierung des urbanen Raums im 19. Jahrhundert.* Sie fuehren dazu,
dass der Blickwinkel und die urbane Erfahrung sowohl der Arbeiterinnen als
auch der buergerlichen Frauen stark eingeschraenkt wird. Beide sind auf
unterschiedliche Art und Weise eingesperrt, betrogen um das Versprechen der
Stadt: um Freizuegigkeit, Komplexitaet und urbanen Kosmopolitismus. Die
Abeiterinnen sind auf ihre eigene Armut und die der drei naechsten Blocks
zurueckverwiesen, auf den Gang zu einer Arbeit, die fast das ganze Leben
auffrisst, und zurueck. Die Frauen sind im Haushalt eingesperrt, auf- und
abgehend in einem Viereck zwischen Schneider, Frauenverein und einer
Verabredung zum Tee oder Abendessen. Bei ArbeiterInnen und auch bei
buergerlichen Frauen entsteht in der Folge ein urbaner Provinzialismus: ein
Ohne-Stadt-in-der-Stadt-Sein. Einer der wenigen alltaeglichen Wege, der sie
in andere Stadtviertel bringt, fuerht in die neuen Warenhaeuser.
Oeffentlichkeit ist allen als mediales Moment realisiert worden eine
politische Oeffentlichkeit der Strasse, dieses pathetische Versprechen der
buergerlichen Revolution, versperren Segregation, Einsperrung und
Ausbeutung. Erst als reine Konsum-Erfahrung wird sie wieder reaktualisiert,
als Warenoeffentlichekt. Mit der Eroeffnung der ersten Warenhaeuser Mitte
des 19. Jahrhunderts beginnt die spektakulaere Inszenierung der Konsumption,
die Subjektivitaet mit Einkaufen, Kleidung und Stil verschweissen wird. Das
ist der Anfang einer Repraesentation von Lust, Begehren und Ich-Gefuehl in
der Warenwelt. Hier setzt das permanente leise Verfehlen des Wunsches nach
Emanzipation und Glueck im Kaufen und im Lebensstil ein, ein Verschieben,
Unterlaufen, Entwenden und wieder in die Warenaestetik-Schmeissen.
Noch 1750 ist ein Kleidungsstueck nicht mehr als ein Kennzeichen fuer den
Platz, den man in der Gesellschaft einnimmt. Hundert Jahre spaeter beginnt
ein Kleid, auch wenn es "von der Stange ist", nicht besonders huebsch und
billig, ein Ausdruck des Selbst zu werden. Das stets virulente Absatzproblem
des Kapitalismus unterstuetzt und produziert diese Fetischisierung der Ware.
Sie wird mit einem utopischen Versprechen aufgeladen, das von ihren
Produktionsbedingungen abstrahiert. Gleichzeitig entsteht die Aesthetik der
Reklame, mit der die Kunst in den Dienst des Geschaefts eintritt. Die Stadt
verwandelt sich in eine Buehne der Konsumption.
Diese Schlacht, Oeffentlichkeit in privaten Konsum zu uebersetzen, tobt
heute mit neuer Heftigkeit. Seit den 80er Jahren wird Konsum von dem
fordistischen Niveau "C&A, Woolworth und Plaza fuer alle" wieder auf ein
differenzierteres, exklusiveres Niveau gehoben, das auch manche Impulse der
neuen sozialen Bewegungen vom Strassenfest ueber den kleinen Service des
Bioladens und der kleinen Fahradwerkstatt kapitalistisch verwertet. Die
sogenannte Innenstadtaufwertung simuliert die Bedeutung eines Stadtkerns in
der Geographie von Yuppie-Design-Teuer-Geschaeften. So wird die
Proll-Trostlosigkeit der Fussgaengerzonen um schicken Luxus erweitert:
Shopping Malls, Passagen, Bistrots, Lifestyle.

*Was hat zur Fussgaengerzone gefuehrt, und wer hat dagegen gekaempft?* Nach
dem zweiten Weltkrieg wird die urbanistische Entwicklungslinie der
raeumlichen Trennung in ungeheurem Ausmass fortgesetzt. Das fordistische
Modell von Massenproduktion und Massenkonsum setzt die Ordnung von
tayloristischer Fabrik, Fliessband und Billigkonsum auch im staedtischen
Milieu um. Schlafen, Arbeiten, Konsumieren werden voneinander getrennt. Die
Stadtzentren verlieren an Bedeutung. Die Doerfer werden zu Kolonien des
staedtischen Wohnungsbaus, weil es den Mittelstand "nach draussen" zieht.
Dort, auf einem eingezaeunten Quadrat, errichtet er seine Ideologie von
Privatheit, Wohlstand, Familie, Garage und Rasenmaeher. Daneben entstehen
riesige Trabantensiedlungen fuer die unteren Mittelschichten und
ArbeiterInnen.
Auf der abgeraeumten, halbleeren Buehne der Stadt taucht in den 60er Jahren
ein neues politisches Subjekt auf, die Masse der jungen ArbeiterInnen, der
StudentInnen und SchuelerInnen. Vor allem in Italien und Frankreich
bestreiten beide Gruppen zusammen einen gemeinsamen Zyklus der
Auseinandersetzungen. Einer der Momente, bei dem diese Auseinandersetzungen
das erste Mal sichtbar werden, sind die Juni- und Julikaempfe in Italien
1960. Was als militante Demonstration gegen einen geplanten Kongress der
faschistischen MSI in Genua beginnt, fuehrt in eine ganze Reihe von
Strassenschlachten mit der Polizei und gleichzeitig in die Konfrontation mit
der Integrationspolitik der PCI. Es ist ein Auftakt fuer das, was die
italienische Arbeiter-autonomie und Jugendrevolte von potere operaio bis zur
autonomia operaia bestimmen wird: ein Aufstand gegen die Disziplinierung der
Fabrik und der Gesellschaft, gegen das kommunistische Arbeitsethos, gegen
die Raumordnung der Staedte, gegen ein Leben zwischen Zwangsarbeit,
programmierter Freizeit und reguliertem Wohnraum.
Hier liegt einer der Anfaenge der neuen sozialen Bewegungen und der
Mikropolitik, die nicht die Sache der "grossen Politik", der Partei und der
Askese verfolgen, sondern einen vielfachen, gleichzeitigen Aufbruch gegen
die Unterdrueckung in der Familie, der Schule, der Universitaet, der Fabrik
und fuer einen Beginn der Veraenderung jetzt-sofort!, in Fabrikbesetzungen,
in Wohngemeinschaften, in neuen Geschlechterbeziehungen, in centri sociali,
in einer neuen Musik, einer neuen Lebensweise -- eine Multiplikation der
Kaempfe und Widersprueche, aber auch eine Verkleinerung und eine neue
Unschaerfe. Politik, Gegenkultur und Subjektivitaet beginnen sich ineinander
zu verknaeulen. Remember the Schwabinger Krawalle.

*Die Stadt ist die Buehne der Minoritaeren Kaempfe. Was kann man mit ihr
machen?* Wie die Geographie der Macht veraendern, die sich ueber die
Jahrhunderte eingerichtet hat, die institutionellen Regelungen, die
Kontrollen, das Diagramm geregelter Stroeme von Waren, Autos und Passanten?
Bereits in den 50er Jahren waehlen die Vorlaeufer der situationistischen
Internationale die Kritik der staedtischen Geographie zu einem ihrer
Hauptagitationsfelder: Gegen die subjektive Langeweile in der Stadt, gegen
das Spektakel der Warenkonsumption, das die Moeglichkeit eines anderen
Lebens verstellt, gegen eine Aufstandsbekaempfung, die sich in der
Abschaffung der Strasse als sozialen Ort durch Autoverkehr und integrierten
Siedlungsbau materialisiert. 1980/81 setzt dagegen in den Staedten der
Bundesrepublik eine existentialistische Revolte ein, die sich noch einmal
auf die italienischen Erfahrungen bezieht. Die Politik der beginnenden
autonomen Bewegungen ist mikropolitisch und aggressiv -- Politik der
ersten Person. 1981 schreibt ein Mitarbeiter der Zeitschrift
>radikal< Statements, die aus der damaligen Stimmung herauszulesen sind:
"Unsere Power kann man spueren, wenn es Putz gibt auf der Strasse (...) dem
Zittern aus Lust und Angst in der Magengrube, beim Klirren der Scheibe nach
dem befreienden Wurf, beim Lachen im Rennen..." Diese Aufbruchssstimmung
endet schon 1983. Die "Power" verschwindet. Bereits 1981 - allein in Berlin
sind knapp 200 Haeuser besetzt - knallt es zwischen Verhandlern und
Nicht-Verhandlern im Haeuserkampf. Auf lange Sicht geht es dabei um die
Frage, ob die Haeuser Ausgangspunkt einer sozialen Revolution oder
Rueckzugspunkt in eine alternative Nische sind. Der autonome Subjektivismus,
das existentialistische Revolten-Projekt, die Politik der Freiraeume haben
eine andere Zeit und einen anderen Ort in der Stadt eroeffnet, in der "immer
mehr die Arbeit, Schule und Familie (verlassen), durch die Strassen
(streunen) (...) Man braucht keinen Beruf mehr, um im Reichtum zu leben,
sondern lediglich Steine, Werkzeuge und zuverlaessige Freunde"
(>radikal<, 1980). Dieses Projekt geraet in die schwierige Dynamik von
Repression und Integration. Die Politik der Freiraeume ist am Ende dem
befuerchteten "Gartenzwergmodell", das sich zuwenig sozial ausweitet, sehr
nahe gekommen.
Der Aufruf "den Kampf in die Viertel tragen" hat die Umstrukturierung der
Viertel nicht aufgehalten. Heute ist der Kiez mit seinen legalisierten
Haeusern, oekologisch und in Schoener-Wohnen-Eigenleistung saniert,
aufgewertetes Gebiet, attraktiv fuer Boutiquen, schicke Restaurants und
"bessere Mieterschichten". Das macht den Versuch rueckwirkend nicht falsch,
signalisiert aber, dass er beschraenkt ist und dass die Zeiten sich
geaendert haben: Die Vorstellung nicht-integrativer Freiraeume laeuft
inzwischen ins Leere, weil die herrschende Politik im neoliberalen Format
selber mit der Freisetzung in kapitalisierte Raeume arbeitet: Du sollst
nicht integriert werden, sondern dich um dich selbst kuemmern. Werde dein
eigener Unternehmer, deine eigene Sozialversicherung usw. Der autonome
"Kampf in den Staedten" weist einige blinde Flecken auf: zum Beispiel hat er
keine Antwort auf den zunehmenden institutionellen Rassismus seit Beginn der
80er Jahre gegeben. Bis Anfang der 90er Jahre sind Rassismus und
Nationalismus Randerscheinungen in der autonomen Diskussion. Allmaehlich
erst bilden sich kleine Ansaetze antirassistischer Praxis und Fluchthilfe.
Die Innenstadtaktionen im Juli 1997 sind der Versuch, innerhalb einer
breiter angelegten, oeffentlichen Kampagne auf die rassistischen und
oekonomischen Trennungslinien hinzuweisen, die die Grossstaedte durchziehen.
Es geht darum, neue Formen der Kontrolle sichtbar zu machen. Das ist kein
Kampf um Freiraeume, sondern eine lose Aktionsreihe gegen
Herrschaftspraktiken, gegen die Saeuberungen der Innenstaedte als
anti-rassistischer Angriff.

(aus Spex 6/1997 S. 47 ff.)


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