Newsgroups: workspace.g-social_spaces_berlin,
workspace.social_spaces_berlin


previous    top    workgroup    thread    next


Subject: Arbeiten spielen (Teil 2)
From: pit <pit@icf.de>
Date: Thu, 24 Jul 1997 05:38:35 METDST


* * * * *

Auf der Reichsagitations- und Propagandakonferenz der KPD, 1925, war
beschlossen worden, alle Medien in den Dienst des Klassenkampfes zu
stellen.
Ballhause, ein junger Arbeitsloser aus einer Arbeiterfamilie, folgte
diesem
Aufruf. Mit der Leica untersucht und dokumentiert er das aus dem
Gleichgewicht geratene Sozialgefüge kurz vor und nach der
Machtaneignung
durch die Nazis. Er registriert in seinen Fotos einen Kriegszustand -
zwischen arm und reich, links und rechts. Er fotografiert mit
versteckter
Kamera, nimmt die Portraitierten aus einer vorsichtigen Distanz und
häufig
von hinten auf - aus Solidarität und Mitgefühl für die Scham der ins
Elend
geratenen, zu denen er sich zählte. Von solchen Aufnahmen
unterscheidet sich
seine eher inszenierte Fotoserie von 193O "Ein Tag im Leben des
arbeitslosen
Schlossers Karl Döhler". In zweiundzwanzig Fotos zeigt Ballhause die
Armut
und Monotonie des Alltags, aber auch die zwischenmenschlichen
Beziehungen
und familären Kontakte eines Arbeitslosen, den er stellvertretend für
Millionen beobachtete. 1932 erscheint diese Fotoserie in der
sozialdemokratischen Wiener Wochenschrift "Der Kuckuck". Die Fotos
sind mit
kurzen, erläuternden Texten versehen. Die von Ballhause vorgestellte
drei-köpfige Familie Döhler lebte 1932 von 64 Mark im Monat, wobei 26
Mark
Miete zu zahlen waren. Ohne ablenkende Details und falsches Pathos
zeigen
Ballhauses Fotos das Antlitz einer von massenhafter Verelendung und
allgemeiner Resignation gekennzeichneten Epoche und bezeichnen somit
die
Bedingungen für die Katastrophe des NS.
Weniger anonym als in Ballhauses Fotos treten die Obdach- und
Arbeitslosen
in Gerald Adam Hahns Fotoserien auf. Hahn zeigt die Menschen nicht in
ihrer
Umgebung und Umwelt. Das Individuum, sein Gesicht, sein Ausdruck
stehen im
Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Für Hahn sind die Penner und
Stadtstreicher
Menschen mit einem persönlichen Schicksal, das sie zu meistern suchen.
Der
Fotograf findet mit der Kamera den Blick des Gegenübers. Hahn streift
nicht
als Chronist durch die Stadt, er sucht vielmehr den Kontakt zu den
Fotografierten, will sie und ihre Geschichte kennenlernen, und das
Persönliche im Schicksal dieser Menschen zeigen. Zu jedem Einzelnen
kann er
eine Story erzählen und hat vor den Überlebensfähigkeiten dieser
Menschen
große Achtung. Manche von ihnen leben schon jahrelang im Abseits. Es
gehört
etwas dazu, dort zu überleben ohne rasch einzugehen. Hahn geht es um
die
Würde und den Stolz, der sich in Gesichtern und Blicken spiegelt, er
versteht sich nicht als Moralist und Ankläger. Trotzdem, seine Fotos
erschrecken auch. So unterschiedlich die Personen sind, ihre
Lebensläufe
sind von einem bestimmten Punkt an identisch: Immer folgte der
Arbeitslosigkeit - egal aus welchem Grund - die Obdachlosigkeit.
Arbeitslosigkeit ist in diesem Sinne - und dies gilt natürlich nicht
für
alle Arbeitlosen - Auslöser für den Verlust von Wärme, Geborgenheit
und
Heimat. Langzeitarbeitslosigkeit führt in die Armut. 8 % der
Bevölkerung
gelten als arm, die Zahl der Armen in der ehemaligen DDR verdoppelte
sich in
den beiden letzten Jahren. Armut findet in Deutschland im Reichtum
statt.
Sie bedeutet Ausschluß und führt zu gesellschaftlicher Spaltung. Mit
der
Umverteilung von unten nach oben läuft die BRD Gefahr demokratische
Standards einzubüßen. Solange wirtschaftliches Wachstum auf Kosten von

Sozialstaatkeit geht, riskieren wir einen sozialen Krieg mit
unabsehbaren
Folgen. Der Anstieg der Obdachlosigkeit steht in einem direkten und
proportionalen Verhältnis zu Arbeitslosigkeit und Verarmung. Eine
Gesellschaft, die diesem Umstand nicht mit klaren Antworten und
Konzepten
entgegentritt, wird keine Berechtigung haben sich länger als
demokratisch zu
bezeichnen. Für die Renovierung und Stärkung des sozialen Systems muß
eine
Kultur des Teilens und ein neuer Gesellschaftsvertrag entwickelt
werden.

In unseren Pritzwalker "Maßnahmen für Langzeitarbeitslose" lernten wir
einen
3Ojährigen obdachlosen Mann kennen, der früher in der Landwirtschaft
gearbeitet hatte. Auch nach dem Ende seiner "Maßnahme" besuchte er uns

öfters. Zwischenzeitlich war er in der Psychatrie und bekam
anschließend ein
Zimmer im Obdachlosenheim. Dort gab es oft Streit und er hatte
Schlägereien
mit üblem Ausgang. Den Sommer über campierte er deshalb in einer Höhle
in
der Nähe des Pritzwalker Bismarckturms. Er trank unglaublich viel,
wirkte
verwirrt und abgetreten. Tagsüber hielt er sich auf dem Pritzwalker
Marktplatz auf, paffte Zigarren, wühlte in Mülleimern und griff
wahllos
Passanten an. Als er das letzte mal in unser Büro kam, konnte man ihn
kaum
noch verstehen, er erzählte irgendwas von der Biene Maja und versuchte

Schlager zu singen; er zeigte stolz seinen neuen Personalausweis, ließ
ihn
dann auf dem Schreibtisch liegen, als wolle er ein Zeichen seiner
Existenz
hinterlassen.
Bemerkenswert war die Toleranz der anderen Kursteilnehmer gegenüber
diesem
Mann. Als er zu Beginn der "Maßnahme" völlig betrunken erschien, und
wir
"Dozenten" ihn nach hause - doch wo sollte das sein? - schicken
wollten,
meuterte der ganze Kurs: Er könne doch seinen Rausch in unserem
Tagungsraum
ausschlafen. Einige Frauen kümmerten sich dann um ihn und begleiteten
ihn
regelmäßig zum Arzt, damit er seine eiternde Mittelohrentzündung
behandeln
ließ.

In diesen Kursen sollten die "Dozenten" laut Curriculum des
Arbeitsamtes
Vorstellungsgespräche einüben, Arbeits- und Sozialrecht lehren,
Grundbegriffe der Lagerwirtschaft - von der Gewichtsermittlung bis zur

Erläuterung von Pack- und Packhilfsmittel unterrichten - und haben
dies auch
nach bestem Können getan. Die wirklichen Probleme lagen tiefer. Mal
abgesehen davon, daß niemand in dieser Gegend Speditionspacker werden
konnte, hatten die Leute einfach andere Sorgen. So besaßen manche kein
Holz
zum Heizen, dort war der Sohn weggelaufen, schlagende Männer,
Räumungstermine, feuchte Wohnungen und vieles mehr brannte den Leuten
auf
den Nägeln; außerdem konnten etliche nicht richtig schreiben, rechnen
und
lesen, denn sie hatten auf der LPG als Traktoristen, Maurer,
Melkerinnen (in
der DDR-Terminologie "Facharbeiter Zoo-Technik") und Waldarbeiter
gearbeitet, waren es nicht gewohnt stundenlang in einem Klassenraum zu

sitzen und nach drei, vier Jahren Arbeitslosigkeit oft körperlich und
seelisch krank. Also organisierten wir eine Art von gegenseitiger
Hilfe,
denn alles außer Geld war vorhanden - also Zeit, technische Erfahrung
und
viele Hilfsmittel, zum Beispiel Motorsägen und Bohrmaschinen. Das, was

früher tyisches DDR-Landleben ausmachte, also Nachbarschaftshilfe und
Tauschökonomie, sollte bei dem Projekt der gegenseitigen Hilfe wieder
Bedeutung bekommen, denn es war dringend nötig die Lebensqualität der
Kursteilnehmer zu verbessern; mit ihren paar Märkern Arbeitslosengeld
war
nicht viel zu reißen. Diese gegenseitige Hilfe kam sehr gut an, man
reparierte in kleinen Gruppen Ställe und Schuppen, pflanzte Hecken,
schnitt
gemeinsam Holz, flickte Dächer, strich Zäune, tauschte Marmelade gegen

Fisch, Obst gegen Gemüse und fühlte sich dabei ganz wohl. Nebenher
organisierten wir zuweilen Feste, ein sogenanntes "Bergfest" in der
Mitte
des Kurses, einen Weihnachtsbasar, grillten, übten an Schreibmaschinen
und
Computern, bastelten, malten ein lebensgroßes Gruppenbild, versuchten
uns in
Holzarbeiten, spielten Theater, schrieben Gedichte, lernten ein
bißchen
Englisch, spielten Volley- und Fußball, gingen ins Freibad und
manchmal
Kegeln. Wir machten Ausflüge nach Berlin und Güstrow und fuhren nach
Posen.
Für viele war das die erste Reise ins Ausland! All diese
Veranstaltungen
organisierten die Teilnehmer selber. Außerdem war es dringend nötig
Fragen
nach Systemunterschieden zwischen BRD und DDR zu diskutieren und
Konflikte
innerhalb der Gruppe zu thematisieren.

Tobias Hausers Ausstellungsbeitrag - der Bronzeguß einer Kettensäge,
die
anstatt des Sägeblatts stilisierte Lorbeerblätter besitzt - könnte ein

Denkmal für diese Arbeitslosen sein. Viele von ihnen haben ja früher
im
Forst mit der Kettensäge in der Hand ihr Geld verdient. Hausers Arbeit
mit
dem Titel "Arbiter" weist jedoch über diesen Gedanken hinaus: Arbiter
ist
ein veralteter lateinischer Begriff, der soviel wie "Schiedsrichter"
und
"Sachverständiger in Dingen des guten Geschmacks" bedeutet. Zudem
verbindet
das Wort "Arbeit" mit dem lateinischen "arbor"(Baum) und läßt sich als

Geschäftsidee, Firmennamen und Kunstkonzept begreifen. Tobias Hauser
hat
eine ganze Gruppe von Arbiter-Skulpturen hergestellt, die aus
abgeänderten
Werkzeugen und Maschinen besteht. Das Arbiter-Logo auf der Säge zeigt
drei
Baumstämme, die abgeschlagen über ihren Stümpfen tanzen.
Zu einem Kranz geflochtene Lorbeerblätter waren in der römischen
Antike
fester Bestandteil des Siegerrituals: Ein gefangener Sklave mußte dem
siegreichen Imperator während des Festumzugs einen Lorbeerkranz über
den
Kopf halten. Die Verbindung von Kettensäge und Lorbeer in Hausers
Bronzeskulptur spricht vom Ende der Arbeit und dem vielleicht
friedlichen
und sogar ehrenvollen Verschmelzen entgegengesetzter Bereiche - denen
von
Technik und Arbeit mit der Natur. Der Natur in ihrer omni potenz
gehört nach
Hausers Auffassung jedenfalls der Siegerkranz. Dieser plastischen
Formulierung vom Ende der Arbeit durch Sieg der Natur über die Technik
liegt
ein utopischer Gedanke zugrunde, der das bis heute wirksame und
mittlerweile
katstrophale "Machet Euch die Erde untertan" (Genesis 1,28) negiert
und
damit eine neue Vorstellungswelt betritt. Auf das Ende der Arbeit
verweist
bei Hausers Skulptur ebenfalls der bronzene Ölfleck, der aus dem Motor
der
Kettensäge geflossen zu sein scheint und ihre Funktionsuntüchtigkeit
verdeutlicht. Bemerkenswert ist, daß ein solcher Kommentar, der von
der
Aufhebung des Antagonismus zwischen menschlicher Arbeit und Natur
handelt,
sich nur in der Kunst wirklich augenfällig formulieren läßt, da sie
jenseits
von Behauptungen immer konkrete Formen annimmt.



Der vom Arbeitsamt erzwungene Einführungskurs für Arbeitslose in
Pritzwalk
dauerte drei Monate und konnte freiwillig um weitere neun Monate
verlängert
werden. Vielen Arbeitslose gefiel das Leben und Arbeiten in den
Gruppen so
gut, daß sie auch an der freiwilligen Maßnahme teilnahmen. Man wußte
dann
wenigstens ein bißchen wo man hingehörte, konnte ein 6-monatiges
Berufpraktikum absolvieren und außerdem bekam man etwas mehr Geld. Am
Rande
bemerkt: 5% der Bevölkerung besitzen in der BRD 4O% des Vermögens, 8%
der
Bevölkerung werden als arm eingestuft. Die meisten unserer
Kursteilnehmer
gehörten zur Gruppe der Armen. Manchmal kamen die Zahlungen vom
Arbeitsamt
unpünktlich und bei Arbeitslosenhilfe von 6OO Mark im Monat entstanden

Engpäße, sodaß Kursteilnehmer die Fahrkarte für den Bus nicht zahlen
oder am
Wochenende nichts Vernünftiges essen konnten ("Hab am Wochende nur
Brot
gegessen!"). Als einmal die Überweisung für einen ganzen Teil der
Gruppe
nicht eintraf, wurden unsere Leute verständlicherweise ungehalten, es
entstand eine agressive und unproduktive Stimmung. Ich schlug vor
einen
offenen Brief ans Arbeitsamt zu schreiben oder eine Demo zu
organisieren.
Man bat mich einen Brief zu verfaßen. Wir schrieben den Brief
zusammen,
wobei ich den Protest formulierte und dem Arbeitsamt mitteilte, daß
die
Arbeitslosen für den Inhalt verantwortlich seien. In den letzten
Monaten
hatten wir viel über die Unterschiede zwischen DDR-Sozialismus und
BRD-Demokratie geredet - der Brief war nach unserer Meinung eine
Beschwerde
mündiger Staatsbürger, die eine Antwort verdiente. Das Arbeitsamt sah
das
anders, man machte mir beleidigte Vorhaltungen, die gute
Arbeitsamtmosphäre
sei durch den Brief gestört. Auf die Beschwerde selber wurde nicht
eingegangen, doch wenigstens kam das Geld jetzt zügig. Trotzdem, das
war der
Anfang vom Ende: Bei einer Überprüfung durch das Arbeitsamt Eberswalde
fand
man bei unserem Kurs etliche Kritikpunkte, besonders monierte man die
Selbsthilfe-Aktivitäten. Der Kurs wurde einem anderen Bildungsträger,
der
sich exakt an das Curriculum zu halten habe, übergeben. Zu einer
Gruppe von
vier Arbeitslosen - zwei Frauen, zwei Männer - blieb der Kontakt
bestehen.
Die Filmemacherin Dorothee Wenner und Helmut Höge hatten uns vor dem
"Rausschmiß" besucht, und so begannen wir anschließend einen
Dokumentarfilm
über das Leben der vier Arbeitslosen zu drehen. Innerhalb eines Jahres

entstand das Video "Die Viererbande - Arbeitslosigkeit in Pritzwalk",
der
von der Arbeitslosigkeit auf dem Land handelt. Schon zur Zeit der
Pritzwalker "Maßnahmen" sprach mich die Künstlerin Ulrike Grossarth
an, ob
es möglich sei, mit den Pritzwalkern eine Art Workshop durchzuführen.
Terminschwierigkeiten verhinderten den Kontakt zwischen den
Arbeitslosen und
Ulrike Grossarth. Sie wird während der Ausstellung "Faktor Arbeit" ein

zwei-tägiges Seminar mit einer Gruppe von interessierten Arbeitslosen
abhalten. Ziel dieser Veranstaltung ist eine bewußtere, das heißt
geistige
und körperliche Erfahrung von zentralen, menschlichen Handlungen.
Theoretisch knüpft Ulrike Grossarth dabei an Hannah Arendts Begriff
des
Politischen an. Hannah Arendt hat die Grundformen menschlichen Tuns
mit den
Begriffen "Arbeiten", "Herstellen" und "Handeln" klassifiziert:
"Arbeiten
steht dabei unter der Bedingung des Lebens, dient im Kreislauf von
Produktion und Reproduktion dem Stoffwechsel des Menschen mit der
Natur.
Herstellen hingegen ist eine Tätigkeit, in der der Mensch eine eigene
Objektwelt errichtet, die der Natur entgegensteht. Insofern diese
künstliche
Welt dauerhaft Bestand hat, findet der Mensch an ihr Halt gegenüber
seiner
eigenen Vergänglichkeit. Handeln schließlich bildet die einzige
Grundtätigkeit, die ohne Vermittlung von Dingen, direkt zwischen den
Menschen statthat. Erst in diesem Miteinander des Handelns
konstituiert sich
eine gemeinsame Welt. Erst das Handeln führt die Menschen aus dem
lebensnotwendigen Tun hinaus ins offene Feld der Möglichkeiten."(17)
Erst
das Handeln - so Hannah Arendts zentrale These - begründet menschliche

Freiheit. Es ist prinzipiell kein einsames Tun, es bedarf der Sprache
und
geschieht in einem zwischenmenschlichen Raum. Solches Zusammenhandeln
von
Menschen - und zu diesem zählt auch das Gegenhandeln - bildet nach
Hannah
Arendt die Grundlage des Politischen. Ohne vorgreifen zu wollen,
werden in
dem von Ulrike Grossarth geleiteten Workshop Übungen zum Handeln
stattfinden. Die TeilnehmerInnen sollen in einem Zustand der
"Selbstvergessenheit" einen Handlungsraum schaffen, der sich durch die

Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven auszeichnet. Die Last der
Darstellung, des bloßen Verkörperns, die die Personen im geometrischen
und
kulturell-zivilisatorischen Raum beläßt, soll aufgehoben werden. Eines
der
Ziele der Übungen ist "ein transparentes, raum-zeitliches, dauernd
vielfältiges, konkret geräuschhaftes Gebilde."(18)

Großen Raum im Leben der Pritzwalker Arbeitslosen nahm das Arbeitsamt
ein.
Noch deutlicher und schärfer als in einem Arbeitsverhältnis erlebten
die
Betroffenen die Abhängigkeit von dieser Verwaltung. Da mittlerweile
fast der
gesamte Schriftverkehr zwischen Arbeitsämtern und den dort
Versicherten vom
Zentralcomputer der Bundesanstalt für Arbeit gesteuert wird, war die
Unsicherheit oft groß, denn den amtsängstlichen Arbeitslosen leuchtete
es
nur schwer ein, daß sie zuweilen innerhalb von einer Woche mehrere
Schreiben
aus Nürnberg bekamen, die sich revidierten oder gar aufhoben. In
Unkenntnis
der komplizierten Vorgänge einer fremden Marktwirtschaft und in
Ermangelung
konkreter Gegner, wurde das Arbeitsamt schnell zum Feind Nummer 1.
Dort gab
man sich redliche Mühe, hatte aber selber Probleme wegen
Umstrukturierungsprozessen und der Umstellung auf EDV, die zur Folge
hatte,
daß etliche Arbeitslose ihr Geld viel zu spät und dann erst nach
Protesten
bekamen. Während unserer Arbeit in Pritzwalk zog das Arbeitsamt in ein

modernes Gebäude, bekam mehr Personal, schickes Mobilar und sogar
einen
Getränkeautomat und wurde neben dem Sozialamt zum zentralen Ort.
Ansonsten
verödete die Innenstadt zusehens. Der Einzelhandel war gegenüber den
gigantischen Einkaufsmärkten am Stadtrand nicht konkurrenzfähig,
Restaurants
und Kneipen machten dicht, Kino gabs nur einmal die Woche, sogar
Autohändler
gingen Pleite und nachts herrschte auf den Straßen der kleinen Stadt
die
rohe Gewalt.

Auf die Institution Arbeitsamt beziehen sich Raffael Rheinsbergs
Ausstellungsbeiträge: An der Hausfassade der NGBK
und über dem Eingang zur Ausstellungshalle hat er das Emblem des
Arbeitsamts
angebracht. Dieses Logo - ein stilisiertes rotes A in einem weißen
Kreis -
läßt gerade in der Kreuzberger Oranienstraße verschiedene
Assoziationen
aufkommen; so bildet für Rheinsberg etwa das Anarcho-Zeichen - ein
weißes A
auf schwarzem Hintergrund - einen konkreten Bezugspunkt zur Geschichte
von
SO 36. Mit dem A verbindet Rheinsberg Anfang, Armut und Anarchismus;
Das
Wort "Arbeit" beginnt mit A und: Wer A sagt muß auch B sagen. Das
Signet des
Arbeitsamts erinnert in seiner Form an künstlerische Gestaltungen der
6O und
7Oer Jahre, und tatsächlich wurde es 1968 von der Kölner Werbefirma
Acon
entwickelt. Das Logo verheißt in seiner klaren Form Modernität,
Dynamik und
Optimismus und stößt, folgt man den auf- und absteigenden Balken,
mitten ins
Zentrum des weißen Kreises. Was aber steht in diesem Zentrum: Arbeit
oder
Arbeislosigkeit? Gleichzeitig formt der Buchstabe so etwas wie einen
Weg,
ein Zelt oder Dach und wirkt außerdem wie eine nach oben gerichtete
Pfeilspitze. Der Graphiker hat sich bei diesem Entwurf etwas gedacht,
er hat
ein Logo mit hohem Wiedererkennungswert entworfen, und wir alle leben,

arbeiten, stehen und fallen mittlerweile mit und unter diesem Zeichen.





Anmerkungen:

(1) Der Begriff des Werks im Kunstzusammenhang geht u.a.
auf Martin Heidegger zurück, der eine Wesensbestimmung
des Kunstwerks in Abgrenzung zum vorhandenen `Ding' und
dem vorhandenen `Zeug' andererseits vornimmt. Heidegger:
Der Ursprung des Kunstwerks, in ders., Holzwege, Frank-
furt/M. 195O. Aber schon im NS, etwa in den Goebbels-
Tagebüchern von 1934, ist der Begriff gebräuchlich und
ist noch bis in die 5Oer und 6Oer Jahre eher unreflek-

tiert Terminus der Kunstgeschichtsschreibung und -päda-
gogik, durch den ich ihn wahrscheinlich inhaliert habe.
In älteren kosmologischen Zusammenhängen verbindet sich
mit dem Werkbegriff auch der Begriff der Schöpfung, des
des Demiurgen und einer Himmelsmaschine (machina mundi).
(2) Joseph Beuys, in: SPEX-Musik zur Zeit, Köln, Sept. 1982,
Nr. 9, S. 19 f.
(3) Hierzu Oskar Negt und Alexander Kluge, in: Geschichte und
Eigensinn, "Kommentar 3: Der Begriff des Wirklichen"
äußern die Autoren:"Arbeit, die im wirklichen Verhältnis
Veränderungen hervorbringt, folgt in ihrer Bestimmtheit
und Gegenständlichkeit der Dialektik des Wirklichkeits-
verhältnisses in einer Gesellschaft. Die Abgrenzung zur
Nicht-Arbeit (von den Autoren hervorgehoben) kann also an
nichts Äußerlichem, weder an vorgestellten Zwecken noch
durch den Bereich der Tätigkeit, zuverlässig festgestellt
werden." Frankfurt/M. 1981, S. 343
(4) Ob Beuys Autos wirklich so schlimm fand, wage ich zu be-
zweifeln: Vor seinem Haus in Düsseldorf-Oberkassel habe
ich mehrfach die Beuyssche Limousine, einen metallic-
rosa farbigen Masserati, stehen gesehen. der Meister
liebte also schöne schnelle Autos!
(5) Norbert Kricke in: Die Zeit, 2O. 12. 1968
(6) Joseph Beuys, in: Niels Kummer: Spurensuche:Mensch.Beuys.
Brigitte, Januar 1988, ohne Angabe
(7) vgl. dazu Frank Gieseke, Albert Markert: Flieger, Filz
und Vaterland, eine erweiterte Beuys Biografie, Berlin
1996, S. 167
(8) ebd. S. 167
(9) ebd. S. 211
(1O)Joseph Beuys in: Sonde. Neue Christlich-Demokratische
Politik, St. Augustin, 12. Jg., Nr. 2/1979, S. 6O-66
(11)Joseph Beuys in: Götz Adriani u.a. Joseph Beuys, Köln
1973, S. 158
(12)Patrick Frey (Hrsg.) in: Das Geheimnis der Arbeit - Texte
zum Werk von Peter Fischli & David Weiss, München,
Düsseldorf 199O, S, 17
(13)U. Beck/A. Giddens, S. Lash: Reflexive Modernisierung,
eine Kontroverse, Frankfurt/Main 1996, S. 22 f.
(14)Heinz Bude (Hrsg) im Vorwort von: Deutschland spricht -
Schicksale der Neunziger, Berlin 1995, S. 8 f.
(15)Barbara Methfessel in: Arbeitsplatz Haushalt, Hrsg. von
Gerda Tornieporth, Berlin 1988, S. 55
(16)Türkisch: Schönes Bügelbrett
(17)Peter Leusch in: Der Sinn des Politischen - zur Aktuali-
tät von Hannah Arendt Denken, Höressay des Deutschland
Radios, Funkhaus Köln
(18)Ulrike Grossarth in: Beschreibung der Aktion, zu ihrer
Aktion im Theater im Turm, Frankfurt/Main, Juli 1996



Dr. Peter Funken, geb. 1954 in Heinsberg/Rhld., Autor und
Ausstellungsmacher, lebt in Berlin.

[aus dem Katalog von 'Faktor Arbeit'
26. April - 1. Juni 1997
NGBK Berlin
ISBN 3-926796-47-2
e-published with permission for non-commercial use]