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Subject: Disneyland mit Todesstrafe - Rem Koolhaas auf der DX - von Jan
From: pit@contrib.DE (Pit Schultz)
Date: 27 Jul 1997 00:56:48 +0200


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Disneyland mit Todesstrafe
Von Jan Hendrik Neumann

Rem Koolhaas zeigt, wo es die inspirierendsten Architekten der Welt gibt: in
China

"Pearl River Delta" heisst der Ausstellungsbeitrag des hollaendischen
Architekten Rem Koolhaas, der an zwei Standorten der Kasseler documenta sich
der "Neuen Architektur und Staedteplanung" in Asien widmet. Zusammen mit
seinen Studenten aus Harvard untersuchte Koolhaas 1996 die Wachstumsregion
"Pearl River Delta" in Suedchina und deren Brennpunkt Hongkong, Macao,
Guangzhou, Nogguan, Zhuhai und Chenzhen. Laut Koolhaas werden diese Staedte
aufgrund eines Baubooms unbekannter Dimension bis zum Jahr 2020 zu einer
einzigen gigantischen Metropolis zusammengewachsen sein, deren Einwohnerzahl
vermutlich von 16 auf 34 Millionen steigt.
Die Hauptursache dieser Entwicklung sieht der hollaendische Architekt in
der von Deng nach Maos Tod ausgegebenen Parole "Reich zu werden ist
grossartig", die die Landflucht anheizte und zur Gruendung der
"Wirtschafts-Sonderzonen" fuehrte, in denen sich kommunistische und
kapitalistische Wirtschaftsformen mischen. Das Hongkong benachbarte
Millionendorf Chenzhen betrachtet Rem Koolhaas mit unverhohlener Sympathie
als symptomatisch nicht nur fuer die Zukunft des Kontinents Asiens, sondern
auch der gesamten Architektur und Staedteplanung in der Welt.

Glanz in den Augen

Bei der Vorstellung seines Projektes im Rahmen der
documenta-Begleitveranstaltung "100 Tage / 100 Gaeste" juengst in Kassel lag
Glanz in Koolhaas' Augen, als er Aufnahmen der Stadt zeigte: "Kein Gebaeude
ist aelter als zehn Jahre. 450 Wolkenkratzer wurden in dieser Zeit allein in
Chenzhen errichtet; die Stadt und die Architektur, wie wir sie kennen, gibt
es nicht mehr." Als Urheber eines von ihm als "Meisterstueck" empfundenen
Gebaeudes ermittelte er zwei voellig unbekannte chinesische Architekten.
Diese hatten den kompletten Wolkenkratzer an vier Nachmittagen am Computer
entworfen - neben ihrer Vormittagstaetigkeit als Lehrer.
Derartige Erfahrungen verlocken Koolhaas zu Zahlenspielen und
unkonventionellen Rentabilitaetsueberlegungen, weil ihm die gaengige
Architektur-Terminologie fuer diese neuen Phaenomene nicht mehr ausreichend
erscheint. Die Begriffe muessten neu definiert werden oder gleich neu
erfunden und sofort unter Copyright gestellt werden. Mit Diagrammen belegt
er seine Erkenntns: "Der chinesische Architekt(c) entwirft das groesste
Bauvolumen in der kuerzesten Zeit fuer das geringste Honorar. Sein
durchschnittliches Lebenswerk umfasst mindestens dreissig 30stoeckige
Wolkenkratzer. Er ist 6000 mal produktiver als sein amerikanischer Kollege
und damit der wichtigste, inspirierendste und wirksamste Architekt der Welt."
Auch die Archtitektur selbst erfaehrt in ihrer chinesischen Variante eine
lexikalische Neudefinition. Sie lautet: "Architektur(c), Eigentumstitel, nur
entfernt verwandt mit der Kunst oder Wissenschaft des Bauens. Entworfen im
Pearl River Delta unter einem beispiellosen Druck von Zeit, Geschwindigkeit
und Dimension." So werden auf dem chinesischen Aktionemarkt mittlerweile
auch Wolkenkratzer zum Tageskurs gehandelt. Allein im Delta des
Peral-Flusses emtsteht jaehrlich eine etwa 500 Quadratkilometer grosse neue
Stadtflaeche - mehr als im gleichen Zeitraum in ganz Europa.
Das Tempo dieser Entwicklung laesst keine Zeit mehr fuer Theorien, wohl
aber fuer ketzerische Thesen: "Planung ist da nur moeglich, wo kein
wirkliches Beduerfnis vorliegt", sagt Koolhaas, und betrachtet mit
Faszination das unorthodoxe Ergebnis der fehlenden Stadtplanung Chenzhens:
Im Gegensatz zu historisch gewachsenen Staedten ist dessen Zentrum - flach.
Es wird bestimmt von mehreren grossen Themenparks (mit Mini-Eiffelturm zur
Orientierung) und es wird gepraegt von Hunderten von Golfplaetzen.
"In Amerika waren 150 Jahre Entwicklung notwendig fuer eine Anlage wie den
Central Park", sagt Koolhaas und zeigt Bilder von Autobahn-umschlossenen
Reisfeldern und Fischteichen - im Herzen der Stadt. Hier ist kein Platz mehr
fuer die bisher gueltigen Spielregeln zur Schaffung von Urbanitaet. Das
heute bevorzugte Entwicklungsinstrument sind Computerprogramme mit Namen wie
"Photo-Shop", mit deren Hilfe die "Anhaeufung individueller Wuensche wie
Haus + Baum + Golfplatz" dann in die Architekturproduktion umgesetzt wird.
Obgleich derartige Entwicklungen unter den von Koolhaas gepraegten
Begriff den "City der erbitterten Unterschiede(c)" fallen, verwahrt er sich
dennoch entschieden gegen westliche Ironisierungen wie "Disneyland mit
Todesstrafe". Hier zeige sich nur der alte Hochmut des ueberholten Westens
und dessen Unfaehigkeit, auf Veraenderungen zu reagieren. "Wir sind blind,
wenn wir nicht realisieren, wie sehr diese neuen Strukturen den neuen
Beduerfnissen und der neuen Form der Stadt entsprechen." Das Zauberwort
hierfuer - in Singapur laengst gebraeuchlich - heisst "Coop-etition(c)"
(gebildet aus "cooperation" und "competition"): Groestmoegliche
konkurrierende Gegensaetze, die einander ergaenzen.
Unter diesen Vorraussetzungen haelt er die heutige
Architektenausbildungnicht mehr fuer sinnvoll. Weil alles von der Umwaelzung
ergriffen werde, scheitere die traditionelle Vermittlungsform. Die Tragoedie
der heutigen Archtekturlehre liegt fuer ihn in deren Unfaehigkeit zur
Erneuerung: "Tabula rasa(c) - das Abschneiden alter Zoepfe", sei im Westen
ein zu Unrecht diskreditierter Begriff, waehrend er in der Volksrepublik
China positiv interpretiert werde als "Beginn von etwas Neuem".

Utopisches Denken?

Nur die komplette Ueberpruefung alter Dogmen und Tabus und die bewusste
Lossagung von ihnen - zugunsten eines vom Ballast der Vergangenheit
befreiten, utopischen Denkens ohne Schranken - kann seiner Ansicht nach zu
neuen Loesungen fuehren. Die politisch-diktatorischen Rahmenbedingungen der
von ihm bewunderten "kolossalen Metropolis" laesst der Hollaender Koolhaas
indes lieber unkommentiert: "Niemandem ist damit gedient, wenn ich mich
ueber die bekannten Ereignisse auf dem "Platz des himmlischen Friedens"
aeussere. Auf diesem Gebiet bin ich nur Amateur."
Profi ist er hingegen im leichter realisierbaren "Spiel der
Ungewissheiten" und dem "Vergessen vorgestanzter Identitaeten". Auch hierin
liegt ihn die Chance "befreiender Effekte". Als Ideal schwebt ihm ein
zehnjaehriger Rueckzug aller Architekten in die Forschung vor - damit diese
zumindest eine Ahung von den Herausforderungen der Zukunft erhalten werden.
Sein documenta-Beitrag will eine solche Ahnung vermitteln und damit
zugleich ein grelles Schlaglicht werfen auf das Ereignis der
Jahrtausendwende, ueber dem im Westen trotz des vielzitierten Phaenomens des
"globalen Dorfes" eine "Wolke des Unwissens" schwebe: "Die neue chinesische
Revolution(c)."

aus der Berliner Zeitung vom 21.07.1997
(mit Erlaubnis des Autors)


lecture auf der dX (realvideo) :
http://www.mediaweb-tv.com/dx/0622/gaeste_frame_e.html

interview mit Tom Fecht bei HybridWorkspace:
http://www.icf.de/hws-bin/discuss/read?grp=workspace.social_spaces_berlin

in realaudio:
http://www.icf.de/cgi-bin/RIS/ris-display?868751729