aus: Scheinschlag 14 -15, 1997



100 Tage Narrenfreiheit

scheinschlag bei der documenta


Kurz hinter Brandenburg verdunkelt sich der Himmel. Bald gehen heftige Regenschauer nieder. Der Westen liegt vor uns und es sieht trübe aus. Der nagelneue Rover (der Herr von der Autovermietung: "Na, die Kasko werden Sie ja hoffentlich nicht beanspruchen.") schnurrt vertrauensvoll. An Bord drei Redakteure und ein Fotograf. Im Gepäck die scheinschlag-Sonderausgaben zum "Planwerk Innenstadt" und den Innenstadtaktionstagen. Während sich die beiden Stadtentwicklungsspezialisten unterhalten, freut sich der autoführende Kulturredakteur über die vertrackten Rhythmen von T.Rex. Der Fotograf schweigt.

Kassel. Eine Stadt, die im Krieg fast völlig zerstört wurde. Eine Stadt mit mehr Regentagen als London. Kassel hat eine Einkaufspassage, seltsam leere, niedrige Unterführungen, ein "Museum für Sepulkralkultur" (sepulkral = das Grab oder Begräbnis betreffend) und alle fünf Jahre für hundert Tage die documenta. Mit der documenta 10 unter der Leitung von Catherine David hat Kassel auch einen Sockenkrieg. David hatte sich den Zorn der Kasselaner zugezogen, als sie sich in Interviews nicht nur über die überalterte Herrenriege an der Stadtspitze, sondern auch über die Affinität Kassels zu Sockenladenvitrinen mokierte. Prompt wurde eine "Sockumenta" ausgerufen; die drei Sockenschaufenster in einer jener seltsamen Unterführungen sind seither mit Kopien der empörenden Interviews sowie ironischen Eigenkreationen gespickt.
Ein Projekt der documenta ist der "Hybrid WorkSpace": Catherine David hat den Kuratoren der "Berlin biennale" (ein Kunstspektakel 1998 in Berlin) dafür die Orangerie zur Verfügung gestellt. Diese (u.a. Klaus Biesenbach von den Berliner Kunst-Werken) konzipierten eine Art temporäres, technikbestücktes Labor, das in zehntägigem Rhythmus verschiedenen Gruppen zur Verfügung gestellt wird: als spartenübergreifender, medialer Arbeits- und Diskussionsort, "global und lokal". Eine der eingeladenen Gruppen ist scheinschlag.
Das schöne an einer Stadt wie Kassel ist, daß man auch ohne Ortskenntnisse sehr schnell da hingelangt, wo man hin will. Erstens ist sie nicht sehr groß, und zweitens sehr gut mit breiten Straßen und Schildern organisiert. Wir müssen also zur Orangerie. Die liegt direkt an der Fulda und ist eigentlich ein kleines Schloß. Sehr schön, mit großer Terrasse und viel Rasen davor. Als wir unsere Sachen ausladen, fallen dicke Tropfen vom Himmel. Die Tür zur Orangerie wird verschlossen gehalten, weil innen gerade wichtige Filmaufnahmen gemacht werden. Wir stehen erstmal im Regen. Irgendjemand führt uns schließlich zum Hintereingang.

Das Labor: Hohe Decken, weiße Wände verstellen den Raum, Projektionen flimmern überall, hinter einer Trennwand eine Ansammlung von Technik und Monitoren. Was fehlt, ist jemand im weißen Kittel, der sich mit kauzigem Lachen als Laborleiter vorstellt und durch die Unübersichtlichkeit führt. Stattdessen Gewusel, ein Durcheinander aus Zuschauern, Organisatoren, Repräsentanten und Mitmachern. Die Verhältnisse scheinen dennoch geklärt: hier konsumierender Kunstsucher, dort produzierender Kunstlieferant. Ist Kommunikation möglich? Wird selbst Provokation nicht zwangsläufig Clownsbelustigung für jene, die ihren Eintritt bezahlt haben? Bestimmen wir den Raum oder dominiert der Raum uns? Gibt es einen öffentlichen (Arbeits-)Raum im Kunstraum? Etwas verstört begeben wir uns für eine Vorstellungsrunde aufs Podium. Zuschauermassen auf der Suche nach der finalen Kunsterkenntnis drängen in die Orangerie und wieder hinaus. Wir kommen uns vor wie in einem Raumschiff und erzählen etwas über eine weit entfernte Galaxis, eine kostenlose Zeitung aus Berlin-Mitte. Ein echter Scheinschlag. Schon wieder gut eigentlich.

Abends treffen wir uns mit den Leuten, die in Kassel die Innenstadtaktionstage vorbereitet haben, um die Veranstaltung für den nächsten Tag zu besprechen. Kassel, so berichten sie, ist schon 1994 "bereinigt" worden - Drogenszene, Obdachlose und Bettler sind in der Innenstadt unerwünscht. Die documenta zeigt nur noch eine Projektion der vormaligen Realität - in einer Unterführung ist ein gestyltes Foto zu sehen: Ein wütender Mann, der eine Milchtüte von sich wirft. Das Dilemma: Selbst die gutmeinendste Kunst-Konzeption kann lediglich thematisieren, was für die Documenta-Besucher von außerhalb längst unsichtbar geworden ist. Seit Anfang des Jahres hat Kassel eine Gefahrenabwehrverordnung. Danach ist nicht nur das Füttern von Tauben verboten, sondern auch öffentliches Biertrinken, lautes Singen, Notdurftverrichten, Lärmen und Anpöbeln. Dafür wurde eine Art Hilfspolizei eingerichtet. Es gehe dabei, so die Stadtverordnetenversammlung, nicht um die Auflösung der Alkohol- und Drogenszene, sondern um deren Verdrängung aus der Innenstadt.

Unser Thema soll nicht Kunst sein, sondern die Abschaffung des öffentlichen Raums unter dem Vorzeichen des "neuen Stadtbürgers", die Vertreibung unerwünschter Bevölkerungsschichten aus den Innenstädten. Und auch das: Kunst als Aufwertungsfaktor für die "Metropole". Kann man aber im Kontext von Kunst Öffentlichkeit herstellen, ohne selbst Kunst zu werden? Am nächsten Tag. Wieder im WorkSpace zu einer öffentlichen Diskussion mit den Innenstadt-Aktionsleuten. An den Wänden flimmert das Kontrastprogramm: die Visionen der Debis-Manager, die am Potsdamer Platz die schöne neue Welt träumen. Aber wenn man schon eine andere Stadt will - wie soll sie aussehen? Es gehe weniger darum, was noch fehle, sondern um das bereits Verschwundene, sagen die Kasselaner: Um Infrastruktur für unreglementierte Nutzung. "100 Tage Narrenfreiheit" bedeute die documenta für Leute, die unter "Urbanität" noch mehr verstehen als die Königsgalerie - eine hermetisch mediterrane Einkaufslandschaft, die von privaten Sicherheitsdiensten bewacht wird. Ist das Kunstspektakel fort, wird Kassel wieder zur kleinsten gemeinsamen Provinz.

Sonntagabend. Kassel zeigt sich versöhnlich. Sonne liegt über dem Friedrichsplatz vor dem Museum Fridericianum. Die Laborsituation hat sich insofern bewahrheitet, als sich unser kleines Team verändert fühlt. Ob der Berliner Schloßplatz größer oder kleiner als der vor uns liegende Platz ist, können wir nicht klären. Differenzen haben sich verflüchtigt. "Kunst ist Erfahrung", wirft jemand in die besinnliche Runde. "Kunst ist, wenn man trotzdem lacht", kommt die Ergänzung. Und schließlich: "Das Licht gibt allem recht." Manchmal ist das so.

Ulrike Steglich und Felix Herbst


Im “Hybrid Workspace"
Über den Ort von Kunst und Öffentlichkeit

Catherine David kennt das Dilemma zeitgenössischer Kunst nur zu gut. Das viele Wissen über die Welt und die “extreme Heterogenität der ästhetischen Praktiken und ihrer heutigen Medien" (Kurzführer documenta 10) lassen es nicht mehr zu, Kunst in einem geschlossenen Raum zu präsentieren. Will man die Grenzen aber sprengen, den “white cube" auflösen, merkt man bald, daß jedes noch so offene und universalistische Konzept doch wieder eine Art von musealem Raum reproduziert. So ist sich die documenta 10 ihrer Grenzen durchaus bewußt. Ihre Stärke ist das Angebot, das sie aus diesem Bewußtsein entwickelt. Keine gültigen Antworten zu behaupten, stattdessen einen Raum für Fragen und Prozesse zu schaffen, das ist vielleicht schon immer das heimliche Programm moderner Kunst gewesen. Um den Ort von Kunst neu zu bestimmen, muß man suchend experimentieren. Der “Hybrid Workspace" (siehe Seite 3) ist in eine Richtung ein Vorposten dieser Suche. Das Konzept dieses Medienlabors liest sich erstmal wie eine gruselige Aneinanderreihung aller Gemeinplätze, die im Zusammenhang mit neuen Medien, Cyberspace und Techno in den letzten Jahren aufgestellt und immer wieder behauptet wurden. Der grundlegende Ansatz, mediale Produktion und soziale Prozesse in einen neuen (synergetischen) Austausch miteinander zu bringen, geht dabei fast unter. Das mag daran liegen, daß einerseits Kunsttauglichkeit und andererseits die Faszination der Metapher “Netz" (mit all ihren Techno-Implikationen wie Benutzeroberfläche, Schnittstellen, Internet) diesem Ansatz etwas im Wege stehen. In dem öffentlichen Gespräch, das die scheinschlag-Redaktion bei ihrem Besuch im Workspace mit den Organisatoren und Machern führte, wurden auch deren unterschiedliche Interessen deutlich.
Während die Vertreter der “Berlin biennale" Anschluß- und Ausdrucksmöglichkeiten für Kunstproduktion im Internet suchen, konzentriert sich Geert Lovink (Mitbegründer der Agentur Bilwet und umtriebiger Netzkritiker) auf die Diskussion und Produktion von kritischen Inhalten. Die Liste der von ihm eingeladenen Aktivisten reicht von Antirassismusgruppen über Sozialisationsforscher bis zu Cyberfeministinnen. Dazwischen tummeln sich Medienkünstler und Produzenten aller Art. Was dabei herauskommen soll, weiß niemand so genau. Die Erfahrungen des ersten Wochenendes legen nahe, daß das erstmal gar nicht so wichtig ist. Der spannendste und produktivste Augenblick war das selbstbezogene Gespräch über Grenzen und Möglichkeiten des Workspaces. In diesem Moment gewannen die schillernden Technometaphern an Farbe und Kontur. Ähnlich wie beim Gespräch am Nachmittag über die “Urbanisierung des öffentlichen Raums" funktionierte die Situation insbesondere für die Beteiligten. Es ist zu bezweifeln, daß normale Besucher des Workspaces irgendetwas von dem verstanden haben, worum es ging. Das könnte ein wichtiger Hinweis für die Bedeutung und das Funktionieren des Workspaces sein. Öffentlichkeit kommt in diesem Raum nur als Ambiente vor, ist vielleicht der adrenalinfördernde Anreiz, sich zu unterhalten. Der entscheidende Prozeß findet zwischen den Personen statt, die sich auseinandersetzen. Das ist eine Erfahrung, die im Prinzip nicht vermittelt werden kann, weil sie das Beteiligtsein voraussetzt. Hier kann man nun auch die Metapher vom Netz wieder ins Spiel bringen, sofern man sie von ihrer technischen Materialität (Computer, Kabel) gänzlich ablöst. Das Netz ist dann auf seine Möglichkeiten zurückgeworfen. Das Netz meint nichts, was vorhanden ist, sondern immer nur die Chance, jemandem oder etwas zu begegnen. Das Versprechen des Netzes wird dann eingelöst, wenn es tatsächlich zur Begegnung kommt. Was hat dies noch mit Kunst zu tun? Vielleicht soviel: Ein möglicher neuer Ort von Kunst könnte dieser Raum der Möglichkeiten sein. Öffentlich ist er allerdings nur für diejenigen, die sich in ihm befinden (die in den geistigen Prozeß des Raumes bereits integriert sind).

Steve Freitag

current issue see http://www.BerlinOnline.de/kultur/scheinschlag/

 

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